Zebraland
M-M-M-M-Mensch ist als ich!«, schreit er gegen den Lärm an. Da hat Anouk ihn erreicht. Behutsam nimmt sie ihm das Mikrofon aus den Händen.
»Ihr solltet euch schämen«, sagt sie und das Mikro verhundertfacht ihre leise Stimme. Dann führt sie Phil aus der Halle.
Er hat seine Aufgabe erfüllt.
Ich finde die beiden schließlich beim Kaffeeautomaten. Anouk wirft gerade Geld ein. Phil lehnt mit geschlossenen Augen in einer Ecke.
»Sie werden es vergessen«, tröste ich ihn. »Sie vergessen so schnell.«
»Judith hat Recht«, bestätigt Anouk und drückt ihm einen Becher Kaffee in die Hand. »Selbst der Unfall von Yasmin ist schon fast wieder ver g …« Sie stockt mitten im Wort. »Da ist Carsten!«, flüstert sie und blickt auf einen Punkt hinter meiner Schulter. »Achtung, er kommt auf uns zu!«
»Hey!«, begrüßt Carsten uns und sagt dann an Philipp gerichtet, »tut mir leid, was da eben passiert ist.« Dabei nickt er zur Turnhalle hinüber.
»Darauf w-w-w-wette ich.« Phils Augen sind ganz schmal vor Hass, aber Carsten ist anscheinend zu aufgeregt, das zu bemerken. Die Art, wie er sich mit der einen Hand am Kaffeeautomaten abstützt, kündet von einer neuen Lässigkeit, einem Selbstvertrauen, das ich vorher nie an ihm bemerkt habe. »Weißt du, ich hätte echt nicht damit gerechnet, dass du ausgerechnet mic h …«
In diesem Moment platzt Murad, Yasmins jüngerer Bruder, in unsere Runde. Und er scheint verdammt wütend zu sein. »Was hast du dir dabei gedacht?«, fährt er Philipp an, ohne uns andere eines Blickes zu würdigen.
»Wobe i … gedacht?«, fragt Phil irritiert.
»Dein Amt niederzulegen, so kurz bevor die neue Ausgabe der Schülerzeitung erscheinen soll! Mit dem Sonderartikel über meine Schwester!« Mit einem scharfen Geräusch stößt Murad die Luft zwischen seinen Zähnen aus, während er Philipp mit anklagenden Blicken durchbohrt: »Du hattest doch versprochen, uns zu unterstützen, und jetz t … «
»Sieh mal, Mura d …«, sagt Phil, und ich kann die Gedanken hinter seiner Stirn geradezu rattern hören: »A-also das, w-was ich eben in der Ha-Ha-Halle gesagt habe, stimmt: C-C-Carsten hier ist mein b-bester Mitarbeiter.« Dabei klopft er Carsten auf die Schulter. Ich erkenne das Zähneblecken hinter Phils Lächeln.
Es scheint, als hätte Phil lauter Nadeln auf der Zunge, als er jetzt sagt: »Bei Carsten ist der Fall deiner Sch-Schwester in den besten Händen. Er hat einen geradez u … alttestamentarischen Gerechtigkeitssinn, nicht wahr, Carsten?«
Alle sehen Carsten an, der mit einem verwirrten, aber offensichtlich stolzen Ausdruck im Gesicht die Achseln zuckt. Entweder weiß er wirklich von nichts oder er ist ein ziemlich guter Schauspieler.
»Tja, wenn das so ist«, sagt Murad und wendet sich kopfschüttelnd zum Gehen. »Kerim hatte Recht, du bist wirklich ein komischer Vogel, Philipp.«
Ich sehe Carsten bei diesen Worten lächeln.
Plötzlich muss ich daran denken, wie er als Kind gewesen ist. Und was er damals nach dem Fußballspiel zu mir gesagt hatte. Am nächsten Tag war ich wieder draußen auf der Fußballwiese gewesen. Alles lief genauso ab wie am Tag zuvor: Erik und Daniel hatten die Mannschaften gewählt, Carsten und ich waren übrig geblieben.
»Ich nehm die Hexe«, hatte Erik gesagt. Doch diesmal begann ich nicht zu heulen. Diesmal stürzte ich mich auf ihn und warf ihn zu Boden. Vor Überraschung waren die anderen zu keiner Reaktion fähig. Im nächsten Moment saß ich schon auf Eriks Brust und drückte seine Arme in das ausgedörrte Gras: »Ich bin keine Hexe! Entschuldige dich!«
Ich war größer als er, größer als die meisten Jungs. Und ich war viel wütender: »Sag Entschuldigung!«
»’tschuldigung«, stammelte Erik.
Ich brachte meine Lippen ganz nah an sein Gesicht und flüsterte: »Weißt du was, Erik? Du hast Segelohren wie Dumbo, der fliegende Elefant. Also halt das nächste Mal die Klappe, wenn jemand eine große Nase hat oder komisch riecht!«
Damit ließ ich ihn los und stand langsam auf. Die anderen Jungs guckten mich an, als hätten sie Angst vor mir. Als wäre ich wirklich eine Hexe.
Carstens Augen leuchteten seltsam, als er hinter mir vom Fußballplatz trottete.
»Wieso hast du aufgehört?«, fragte er mich.
»Er hat sich entschuldigt«, sagte ich.
Selbst wenn ich beim Fußball weiterhin als Letzte gewählt werden sollt e – immer würde ich Eriks erschrockenes, komisches Gesicht vor mir sehen. Damit war seine Macht über mich
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