ZECKENALARM IM KARPFENLAND
die Haustüre ihres Bruders aufschloss. „Iech bins, die Julia! Bin widder do!“, rief sie in Richtung Schlafzimmer. Keine Reaktion. Auf leisen Sohlen schlich sie ins Haus. Ihr Bruder lag mit geschlossenen Augen in seinem Bett. Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, drückte sie die Schlafzimmertür ins Schloss. Sie wollte noch die Ankunft des Arztes abwarten, bis sie ihren Bruder wecken würde. „Schlaf is gud fier Grange, dees sachd mei Mudder aa immer.“
Es war bereits fünfzehn Minuten nach fünf, als der Arzt mit seinem Ford Kuga auf den Hof fuhr. Julia Fuchs öffnete die Tür, bevor er auf den Klingelknopf drückte.
„Wie geht es denn dem Patienten heute?“, war das Erste, was der Mediziner wissen wollte.
„Er schläfd“, antwortete sie, „abber iech deng, edz wermern aufweggn missn!?.“
„Ja, schaun wir mal, ob die Medizin angeschlagen hat“, bestätigte der Arzt Julia Fuchs‘ Frage.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Der Patient schlief immer noch. Sein Gesichtsausdruck sah entspannt aus. Was dem Arzt allerdings nicht gefiel, war die Tatsache, dass sich die kleinflächigen Blutungen im Gesicht deutlich vergrößert hatten.
„Johannes, wach auf, der Dogder is do.“
Johannes Sapper gab kein Lebenszeichen von sich.
„Johannes!“, rief Julia Fuchs deutlich lauter. Sie zog am Ärmel seines Schlafanzuges. Als auch das nichts half, rüttelte sie ihn kräftig am Arm.
„Lassen Sie mich mal!“, forderte der Doktor sie auf. Er zog sich rasch Latexhandschuhe über, öffnete das rechte Augenlid, leuchtete mit einer Minitaschenlampe in die Pupille und fühlte am Hals, ob Puls vorhanden war.
„Frau Fuchs, seien Sie gefasst. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Bruder verstorben ist.“
Julia Fuchs sah den Arzt mit geweiteten Augen an. Sie hatte zwar gehört, was der Doktor gesagt hatte, aber sie hatte es noch nicht verstanden. Erst nachdem weitere fünf Sekunden vergangen waren, begriff sie die Worte des Arztes. Sie riss ihre Hände vors Gesicht und ein lauter, hysterischer Aufschrei folgte aus dem Innersten ihrer Brust. Dann bekam sie wässrige Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf. „Abber iech habb doch ersch heid Middooch nu mid mein Bruder gredd! A Subbn wolldin machen, abber er had gsachd, dasser kann Abbedid had. Er wolld lieber a weng schloofn. Wie gibds denn dees? Dees woar vor a boar Schdundn, und edz lichder dod in seim Bedd! Gschdorbn! Dees kann doch ned woahr sei!?“
„Frau Fuchs, ich weiß, dass es schwer ist, diese traurige Nachricht zu begreifen. Das ist immer so, in solchen Situationen. Versuchen Sie bitte erst einmal selbst Ruhe zu gewinnen. Soll ich Ihnen eine Beruhigungsspritze verabreichen?“
„Iech will ka Schbridzn ned! Iech will dass mei Bruder lebbd!“
„Das kann ich gut verstehen, Frau Fuchs, aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Das Leben muss weiter gehen, auch wenn Sie momentan in tiefer Trauer um Ihren Bruder sind und nicht verstehen können, warum er so früh gehen musste und wie es dazu kam. Leider muss ich Ihnen jetzt, in dieser tragischen Situation, auch noch mit formellen Dingen kommen. Ich bin leider gesetzlich verpflichtet, eine Leichenschau vorzunehmen und den Totenschein auszustellen.“
„Derf iech mein Mo anrufen? Der soll kumma. Iech bagg dees alles ned allaans.“
„Natürlich, das ist das Beste“, entgegnete der Arzt. „Ich muss Sie sowieso bitten, mich mit dem Leichnam für einige Zeit alleine zu lassen. Für die Untersuchung, die ich durchführen muss, muss ich den Toten vollständig entkleiden. Rufen sie doch Ihren Mann an und nehmen Sie zwischenzeitlich im Wohnzimmer Platz. Nach der Untersuchung benötige ich noch ein paar persönliche Angaben von Ihnen.“
Julia Fuchs tat, wie ihr geheißen. Sie rief ihren Mann an. Bruno war ebenfalls schockiert und konnte die traurige Nachricht ebenso wenig begreifen wie seine Frau wenige Minuten zuvor. „Iech kumm gleich. In fimbf Minuddn binni do. Versuch dich a weng zu beruhign.“
•
Eine Stunde später saßen Bruno Fuchs und seine Frau Julia mit dem Hausarzt im Wohnzimmer des Verstorbenen zusammen.
„Also“, begann der Arzt, „es handelt sich eindeutig um eine natürliche Todesart. Von natürlicher Todesart sprechen wir Mediziner immer dann, wenn keine äußeren Einflüsse vorliegen. Ihr Bruder“, und dabei sah er Julia Fuchs an, „ist an multiplen Organversagen verstorben, vermutlich ausgelöst durch eine schwere Infektion.
Weitere Kostenlose Bücher