Zehn (German Edition)
Mariko schwitzte. Es war Juli, sie war im fünften Monat schwanger, und der Gürtel drückte.
Sie war allein. Niemand würde bemerken, wenn sie ihn abnahm.
Die CD war zu Ende. Brahms. Da nickte sie immer ein. Sie rollte leicht zur Seite. Streckte die geschwollenen Finger aus und nahm die nächste CD vom Stapel. Heute war Mittwoch. Nach Brahms kam amerikanische Musik der 60er- und 70er-Jahre. Joan Baez.
Es gab einen Plan. Seit fünf Monaten gab es einen Plan. Einen Bildungsplan für ihr ungeborenes Kind. Mariko und Keikô hatten ihn zusammen erstellt. Mithilfe von Büchern und des Internets hatten sie Listen mit wichtiger internationaler Literatur, Musik und Kunst erstellt.
Sie hatten französische und englische Sprach-CDs bestellt. Mariko aß weniger Fisch und mehr Udon.
Ihr Kind würde bereits vorgebildet geboren werden. Solche Bildungsvorteile waren wichtig in Japan. Jeden Tag spielte Mariko ihrem Bauch verschiedene CDs vor. Oder sie las selbst. Heute Abend würde sie von Kenzaburô Ôe lesen. Sie selbst hatte zuvor nie von dem Autor gehört. Aber Keikô fand, dass man einen japanischen Literaturnobelpreisträger unbedingt auf der Liste haben müsste.
Sie war müde. Joan Baez sang: »We shall overcome …«
In wenigen Stunden würde Keikô von der Arbeit nach Hause kommen. Dann wollten sie die Schulen besprechen. Dazu kamen die Schwiegereltern und ihre Mutter.
Ihr Vater war im letzten Jahr verstorben. Bei Babybesprechungen verließ ihre Mutter oft unvermittelt den warmen Kotatsu. Dann fand Mariko sie in der Küche. Dort weinte sie heimliche Tränen, weil der Vater das Baby nicht mehr erleben konnte. Ihre Mutter hatte damals nur die Grundschule besucht. Sie hatte sehr früh Kinder bekommen und war ihr Leben lang Hausfrau gewesen. Mariko erinnerte sich an ein Bild aus ihrer Kindheit: ihre Mutter auf allen vieren im Flur. Mit Pantoffeln in der Hand den Vater erwartend. Ihre Mutter hatte die Kinder und die Finanzen gehütet. So wie viele Frauen ihres Alters in Japan.
Keikôs Mutter hatte nie eine Schule besucht. Sie stammte aus sehr wohlhabenden Verhältnissen und hatte zu Hause einen Privatlehrer gehabt. Obwohl man auf die Erziehung und Bildung eines Mädchens damals nicht viel Wert legte, hatte sie es zu einer eleganten Hausfrau gebracht, die nebenbei las, Ikebana beherrschte und Tonskulpturen schuf, die sie sogar verkaufte. Keikôs Vater war Ingenieur und wünschte sich diese Laufbahn auch für den Enkel.
Man ging allgemein davon aus, dass Mariko einen Jungen gebären würde.
Auf dem Ultraschall hatte man bisher kein Geschlecht erkennen können. Das kam selten vor, sagte die Ärztin. Jedes Mal aufs Neue gingen sie gespannt zum Ultraschalltermin. Und jedes Mal warteten die Eltern gespannt auf die Antwort. Doch immer zuckten sie mit den Schultern. Die Nabelschnur war im Weg, oder das Kind lag in einem ungünstigen Winkel.
Keikô hoffte ebenfalls auf einen Sohn. Er wollte mit ihm Baseball spielen und im Sommer fischen gehen. Mariko wusste, dass dies all die Dinge waren, die Keikô sich immer von seinem Vater gewünscht hatte. Vergeblich.
Mariko fühlte, dass es ein Mädchen war. Aber sie sagte nichts. Sie freute sich einfach.
Joan Baez folgte Jimi Hendrix, dann Janis Joplin. Mariko verstand die Worte nicht. Sie hatte nie Englisch gelernt. Auch die Musik klang etwas fremd, aber es gefiel ihr. Es war wichtig, diese Klassiker zu kennen, sagte Keikô.
Es war Zeit für einige Haiku. Sie nahm das schmale Gedichtbändchen vom Mittwochs-Buchstapel.
Ein Haiku ist eine Art dreizeiliges Gedicht. Eine kleine Situation, bei der sich der Leser oder Zuhörer das Davor und das Danach dazu vorstellen musste. Das erste Haiku war von Buson:
»Meine Nachbarn hassen mich:
Sie klappern mit ihren Pfannen
In der Winternacht.«
Mariko las es laut vor. Sie musste an ihren Großvater denken, der lange allein in den Bergen gelebt hatte. Er war einsam gestorben, hatte früher keinen Streit mit den Nachbarn ausgelassen, hatte sich ständig beschwert oder vor Wut Wasser vom Balkon gegossen.
Mariko hatte ihn nur wenige Male gesehen. Aber es wurde noch heute sehr oft von ihm gesprochen.
Das nächste Haiku war von Meisetsu. Mariko fand es romantisch:
»Eine Frau, ein Mönch –
Die Fähre glitt davon
Im Schneegestöber.«
Sie stellte sich die Frau wunderschön vor. Und den Mönch jung und voller unterdrückter Leidenschaft. Was würde geschehen auf
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