Zehn (German Edition)
der Fähre?
Sie selbst hatte Keikô im Fahrstuhl kennengelernt. Sie hatten im selben Gebäude gearbeitet. Unweit von Ginza. Jeden Tag waren sie sich begegnet. Mariko brachte Akten vom achten in den sechzehnten Stock, Keikôs kleines Büro lag im zwanzigsten Stock, er ging allerdings zum Kopieren in den siebzehnten Stock, weil dort die Schlangen am Kopierer kürzer waren. Irgendwann hatten sie sich zugenickt, dann gegrüßt.
Mariko hatte sich schon nach dem Aufstehen auf den Fahrstuhl gefreut.
Jetzt spürte sie das Kind. Es trat. Sie legte das Buch beiseite und rieb sanft den Bauch.
Vielleicht war es doch ein Junge? Wenn es ein Junge wäre, dann würden sie ihn Seiji oder Yohi nennen. Das war auch den Schwiegereltern recht. Marikos Mutter hatte sich Shinji gewünscht, den Namen ihres Vaters.
Wenn es ein Mädchen würde, dann würde sie Junko heißen, wie Junko Tabei, die Frau, die 1975 den Mount Everest bestiegen hatte. Da war sich Mariko ganz sicher. Keikô und seine Eltern fanden den Namen nicht besonders gut. Aber da man allgemein annahm, dass ein Sohn geboren werden würde, diskutierten sie nicht. Von Junko Tabei hatte Mariko bereits in der Grundschule gehört. Die Schüler hatten einen Aufsatz über die Bergsteigerin schreiben müssen. Sie war als Kind völlig fasziniert gewesen von einer Frau, die den höchsten Berg erklomm.
Heute Abend würden sie Schulen vergleichen, Schulgelder addieren und eventuell herausfinden, dass sie in den nächsten Jahren umziehen mussten, je nachdem, wo die Schulen für das Kind gelegen waren.
Mariko selbst hatte nur zwei Jahre im Kindergarten verbracht, da sich ihre Mutter für sie zu Hause Zeit genommen hatte. Nach der Grundschule war sie auf eine kleine staatliche Schule für Hauswirtschaft gegangen. Für eine Tandai, eine Frauenuniversität, hatte es nicht gereicht. Aber Mariko wusste, dass sie Kinder wollte und früh heiraten würde. Als Akademikerin hätte man von ihr erwartet, erst Karriere zu machen.
Auf der Schule hatte sie gelernt, auf der Schreibmaschine zu tippen, und einen Computerkurs gemacht. Sie hatte gleich eine Stelle in einem Verlag als Sekretärin bekommen. Und dann war Keikô im Aufzug erschienen.
Sie hatte gleich gewusst, dass er der Mann war, den sie heiraten würde. Er war höflich, lustig, ging gerne ins Kino und hörte ihr zu. Nach sechs Monaten hatte er bei ihrer Mutter um ihre Hand angehalten. Sie hatten zur Kirschblüte geheiratet. Eine kleine Hochzeit. Im Winter war Mariko schwanger geworden. Alle hatten sich gefreut. Und alle hatten mitgeholfen, den Plan zu erstellen, damit es ihr Baby gut haben würde. Und leichter im Leben.
Als sie im dritten Monat war, musste sie oft weinen. Der Plan strengte sie an. Keikô hatte zu ihr gesagt: »Willst du nicht, dass es unser Kind mal besser hat als wir? Wenn er erfolgreich wird, dann ist das auch für uns gut.« Dabei hatte er ihren Bauch gestreichelt. Seitdem weinte sie nicht mehr.
Sie lernte mit. Sie las Rilke, Voltaire, Shakespeare und Murakami. Beschrieb ihrem Bauch, wie die Mona Lisa lächelte oder wie sich van Goghs Sonnenblumen im Wind wiegten.
Sie lernte Business-English und französische Konversation. Sie schlief ein zu den Klängen von Wagner, Arvo Pärt, Bach, Chopin oder Mozart. Sie sah DVD s über fremde Länder, Inszenierungen des »Nussknackers« oder Dokumentationen über den Fall der Berliner Mauer. Mariko sah, las und hörte Dinge, die ihr bisher fremd gewesen waren. Sie kannte natürlich japanische Autoren und japanische Musik. Alles andere war bisher nie wichtig gewesen. Keikô schleppte jede Woche neue CD s, DVD s und Bücher heran.
Immer wenn ihre Freundin Rei donnerstags kam, staunte sie. Rei war ebenfalls schwanger. Im sechsten Monat. Auch Rei und ihr Mann lasen ihrem ungeborenen Kind vor. Allerdings bekam Rei ein Mädchen. Nachdem sie diese Neuigkeit erfahren hatten, war Reis Mann nicht mehr so interessiert an einem Lehrplan. Rei lieh sich deshalb oft CD s von Mariko und schrieb ihre Musiklisten ab. Morgen wollten die beiden Frauen zusammen nach Kinderwagen schauen.
Sie hörte ein leises Rascheln. Die Schwiegermutter war gekommen. Sie trug einen einfachen grünen Kimono und Hausschuhe.
Leise trat sie ein, verbeugte sich und fragte Mariko, ob sie Tee wolle.
Mariko verneinte. Sie zog den Haraobi zurecht. Es war besser, wenn Keikôs Mutter nicht mitbekam, dass sie ihn gelöst hatte. »Es wäre besser, du legst dich im anderen
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