Zehn (German Edition)
Shinjuku.
Sie zählte jetzt das Geld in der Kasse, allerdings musste sie noch auf die letzten Gäste warten. Am letzten Tisch wurde jetzt lauter gelacht. Der Sake tat seine Wirkung. Die Gesichter der Männer waren gerötet. Alle waren Anfang vierzig, Businessmen. Mit losen Krawatten, weißen Hemden und schwarzen Anzügen. Alle hatten denselben Haarschnitt, alle tranken dasselbe Bier, und sie konnte ihr Lachen nicht voneinander unterscheiden. Der Älteste von ihnen zahlte.
Würde so ihr späterer Mann aussehen? Sie versuchte, es sich vorzustellen. Sie stellte sich einen Mann mit angenehmer Stimme vor. Der gut roch. Jemanden, der schon die Welt gesehen hatte und Französisch sprach.
Ihre Schwester hatte vor einem Jahr geheiratet. Miyu hatte sie beneidet damals. Harukas Mann schien der beste Freund seiner Frau zu sein, manchmal wirkten sie sogar ein bisschen wie Geschwister. Sie waren sehr innig miteinander. Miyu hatte das Gefühl, dass sie glücklich waren.
Zu ihrer Hochzeit war sie zu spät gekommen. In der Nacht zuvor hatte sie im »Blondy« gearbeitet und am frühen Morgen den Zug nehmen müssen. Haruka und Tadaski hatten in Kyoto, bei den Eltern, geheiratet. Miyu hatte sich den Kimono beim Friseur in Kyoto anziehen lassen. Dann war sie mit kleinen Schritten weitergeeilt.
Sie besaß nicht viele Erinnerungen an ihre Kindheit in Kyoto und kannte sich dort kaum noch aus. So fand sie den kleinen Shintô-Schrein nicht gleich und kam zu spät. Sie musste am Tisch mit den alten Tanten sitzen, deren Männer alle verstorben waren. Sie sprachen viel von Krankheiten und wie gut die Luft auf dem Land war. Plötzlich war Miyu traurig geworden.
Am späten Abend, bei der Party, hatte sie Shido getroffen. Als Kinder hatten sie zusammen gespielt. Shido saß ebenfalls abseits. Miyu wusste nicht, dass er ein entfernter Freund von Tadaski war. Zuerst erkannte er sie nicht. »Die kleine Miyu? Oh, das gibt es ja nicht!« Er freute sich, sie wiederzusehen. Sein Lachen erinnerte Miyu an die Zeit, als sie Kinder waren. Shido war wild und frech gewesen. Schon damals hatte er immer laut gelacht.
Mittlerweile war er sehr dick geworden, er fuhr für ein Kaufhaus Ware aus. Familie hatte er nicht. Shido trank sehr viel. Irgendwann trank sie mit. Sie vergaßen die Hochzeit. Er erzählte ihr Anekdoten aus ihrer Kinderzeit. Wie er als Fünfjähriger mit Miyu gerauft und ihr Kleid zerrissen hatte. Miyu hatte heulend, nur in Unterwäsche und mit dem Fetzenkleid unter dem Arm, dagestanden. Da hatte ihnen die Nachbarin ein paar Mochibällchen zugesteckt, und die beiden hatten friedlich weitergespielt. Noch Jahre später war Miyu mit dem Vorfall geneckt worden. Miyu hatte die Geschichte fast vergessen.
Shido konnte lustig erzählen, und sie lachte so laut, dass die alten Tanten die Stirn runzelten. Erst als sie irgendwann aufstand, merkte sie, wie betrunken sie war. Der Kimono saß eng, sie verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Seitdem sprach ihr Vater nicht mehr mit ihr.
Es wurde für einen Moment kalt, und der Durchzug ließ Miyu zusammenzucken. Die Männer waren gegangen. Kaum schlug die Tür hinter ihnen zu, schlüpften die Mädchen aus ihren Kostümen und griffen zu ihren Handys.
Reiko und Yumi räumten auf, die anderen zogen sich um, und Miyu schloss die Tür ab. Sie gähnte. Morgen würde sie ausschlafen. Sie hängte das Rotkäppchenkostüm über den Bügel und hoffte, morgen wieder die Prinzessin sein zu können.
Draußen war es windig und kalt. Sie ging zusammen mit Reiko zur U-Bahn. Akihabara war trotz der späten Stunde sehr belebt. Es gab einige Geschäfte hier in »Electric Town«, die vierundzwanzig Stunden geöffnet hatten. Obwohl sie müde war, ging sie noch mit Reiko ins Kaufhaus an der U-Bahn, Reiko musste Batterien kaufen.
Während Reiko müde die Regale abschritt, überlegte Miyu, was sie diese Woche an ihrem freien Nachmittag machen wollte. In der wenigen freien Zeit kümmerte sie sich eigentlich immer um ihre Wohnung und ihr Äußeres. Maniküre und Pediküre waren wichtig, das Nachblondieren der Haare, sie ging ins Fitnessstudio und zur Massage, sie achtete darauf, was sie aß, und kaufte modische Kleidung. Viel freie Zeit blieb nicht. Das Leben war hektisch und schnell.
Vielleicht würde sie ihre Schwester treffen.
Die blinkenden Lichter und die laute Musik, die aus allen Boxen quoll, ließen sie kalt. Sie lehnte sich an einen Hi-Fi-Turm und hielt nach Reiko Ausschau. Ihr
Weitere Kostenlose Bücher