Zehn (German Edition)
Magen knurrte, sie hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen.
»Miyu, vergiss nicht, du hast morgen die frühe Schicht!« Reiko stand mit einer kleinen Tüte hinter ihr.
Fast hatte sie vergessen, dass sie mit Mariko die Schicht getauscht hatte. Das bedeutete, dass sie morgen um neun im Café sein musste. Sie seufzte und fühlte sich müde. In der U-Bahn schlief sie kurz ein.
Kaum war sie in ihrem Apartment angekommen, zog sie Schuhe und Jacke aus und fiel aufs Bett. Ihr Kopf schmerzte leicht. Sie würde noch ein bisschen lesen.
Müde rieb sie sich das Gesicht. Eigentlich musste sie sich abschminken.
Sie würde nur kurz die Augen schließen.
»Ich muss etwas essen«, dachte sie.
Dann war sie eingeschlafen.
Auf einem kleinen Porzellanteller vor ihr türmten sich Gebäck, Törtchen, Erdbeer-Daifuku, gezuckerte Kartoffeln, pinkfarbene Kushidango-Klößchen und obenauf eine knallrote, kandierte Kirsche. Sie entschied sich für die Erdbeer-Daifuku. Selten hatte sie etwas so Köstliches gegessen. Der Teig war luftig und die Erdbeeren süß und saftig. Dann kostete sie aus einer Schale mit Grünem-Tee-Eis, die eine Kellnerin lächelnd vor ihr abgestellt hatte. War sie im »Dessert Kingdom«, einer Restaurantkette, die sie zuletzt als Kind besucht hatte?
Miyu war warm. Sie fühlte sich etwas schläfrig vielleicht. Die Familie am Nebentisch lächelte ihr zu. Alle waren heute so nett zu ihr.
Obwohl sie bereits drei Erdbeer-Daifuku und diverse Cream puffs gegessen hatte, war Miyu nicht satt. Sie konnte nicht aufhören zu essen, es schmeckte zu köstlich. Sobald sie geschluckt hatte, schienen sie sich in Luft aufzulösen. Sie konnte endlos so weiteressen. Ihr Magen schien sich nicht zu füllen. Die Kellnerinnen trugen hübsche orange-weiß gestreifte Kleider mit weißer Schürze und Puffärmeln. Alle schienen vergnügt und sorglos. Miyu summte leise »Hanami«, das Lied, das die Kirschblüte besang.
Als sie die Hand nach einem weiteren Cream puff ausstreckte, lag stattdessen ein Keks, der ein lachendes Gesicht aus Schokolade hatte, vor ihr.
Er zwinkerte ihr zu und flüsterte: »Miyu, zu Hause wartet doch jemand auf dich!«
Miyu stand auf und ließ die restlichen Törtchen einfach stehen. Sie schob die Tür auf und war plötzlich barfuß. Der Boden unter ihren Füßen war warm, und Miyu bemerkte, dass sie auf knorrigem Holz stand. Wie war das möglich? Sie sah genauer hin und erschrak: Vor ihr lag ein überdimensionales Zimmer. Eine Art Landhaus, sehr gemütlich. So, wie Miyu es sich immer gewünscht hatte. Und sie selbst stand in einem Astloch der Deckenbalken. Miyu zögerte. Um sich zu vergewissern, ging sie langsam wieder in das Restaurant zurück. Seltsamerweise war vom »Dessert Kingdom« nun nichts mehr zu sehen. Dabei war sie doch eben durch diese Tür gegangen?
Wohlige Wärme schlug ihr entgegen. Sie stand mitten in einem gemütlichen Wohnzimmer. Es roch nach würzigem Tee, und Miyu wurde angenehm schläfrig beim Anblick der gemütlichen Couch, auf der weiche, bunte Kissen lagen. Sie hatte das Gefühl, zu Hause zu sein. Auf dem Couchtisch lag ihr Schlüsselbund mit den vielen Anhängern und Glücksbringern. Verwundert nahm Miyu ihn in die Hand. Wie konnte das sein?
»Da bist du ja!« Eine weiche Männerstimme klang vom anderen Ende des Raumes herüber. Ein hochgewachsener Mann, etwas älter als sie, kam auf sie zu. Er sah gut aus. Er schien hier zu wohnen. Er trug Jeans und Hausschuhe. Miyu lächelte ihn an. Der Mann lächelte zurück. Miyu kannte den Mann nicht. Wie konnte er ihr dennoch so vertraut sein? Sie konnte nicht sprechen, sie war zu müde.
Wie selbstverständlich zog sie ihre Schuhe aus und legte sich auf die Couch.
»Magst du Tee?«, fragte der Mann. Miyu starrte ihn an. Nein, sie kannte ihn nicht, aber das Gefühl von Vertrautheit war überwältigend. Er roch gut. Er lachte sie an und begann, sanft ihre Füße zu massieren. Irgendwo klingelte ein Telefon. Sie erwachte ruckartig.
Es war sehr hell in ihrem kleinen Schlafzimmer. Grelle Sonnenstrahlen fielen durch die verbogenen Lamellen des Rollos. Miyu war vollständig bekleidet. Verwirrt griff sie hinter sich, sie hatte auf ihrem Buch gelegen, einige Seiten waren verknickt.
Wieder klingelte ihr Telefon.
Es war Reiko. »Miyu, wo steckst du?«, fragte sie aufgeregt.
Jetzt war Miyu hellwach. »Miyu, es ist fast elf Uhr! Wo bleibst du? Wir versuchen seit neun Uhr, dich zu
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