Zehn (German Edition)
von der Arbeit abholen. Miyu erzählte ihr, dass sie verschlafen hatte.
»Du arbeitest zu viel!« Haruka klang streng. Miyu wollte ihrer Schwester von dem Traum erzählen. Haruka glaubte an Omen. Bevor sie Tadaski getroffen hatte, hatte sie in einem Traum Männerschuhe vor ihrer Tür stehen sehen. Tadaski hatte bei der Dinnerparty, auf der sie sich begegnet waren, genau solche Schuhe getragen. Natürlich hatte Haruka das erst nach dem Essen erfahren. Nachdem die beiden sich drei Stunden lang unterhalten hatten. Auf Socken.
Jetzt tauchte der junge Mann wieder auf. Er schien etwas fragen zu wollen. Als er bemerkte, dass sie am Telefon sprach, zog er sich entschuldigend zurück.
Er hat schöne Augen, dachte sie.
»Miyu! Bist du noch dran?« Haruka klang ungeduldig.
»Entschuldige, ich kann jetzt nicht. Heute Abend ist schlecht. Verzeih. Ich rufe dich nachher an!« Miyu hörte ihr nicht zu. Der junge Mann hatte sich wieder hingesetzt. Sie überlegte, was er gewollt haben könnte. Es war ruhiger geworden im Café. Alle Tische waren versorgt.
Miyu begann die Zeitschriften und Magazine zu ordnen. Sie fühlte sich leicht. Normalerweise hatte sie dieses Gefühl nur zur Kirschblüte. Wenn Tokio in zarten rosa Blüten versank. Wenn alle Menschen im Gras saßen und sich in den Frühling verliebten. Ein Gefühl aus der Kindheit. Ein sorgloses Mädchen mit Prinzessinnenkrönchen, in einem Regen aus blassrosa Blüten.
»Verzeihung.« Der junge Mann verbeugte sich tief. »Verzeihen Sie, wenn mein Bruder Sie beschämt hat. Er hat etwas zu viel getrunken.« Er lächelte entschuldigend. »Mein Name ist Seiji. Ich … ich bin Polizist. Deshalb …«
Miyu lachte hinter vorgehaltener Hand. »Das ist wirklich lustig. Dann … sind wir fast so was wie Kollegen!« Seiji schien erleichtert. Sie blickte sich um. Die anderen Mädchen waren beschäftigt. »Ich bin Miyu.« Sie verbeugte sich leicht und sah ihn nicht an. Aber sie spürte seinen Blick. Ihr wurde warm. Unangenehm war es nicht. »Möchten Sie noch einmal das Telefon benutzen?« Er räusperte sich. »Das ist nicht nötig. Danke.« Er stand nun einfach da.
Wie seltsam die Situation war: Zwei Polizisten standen sich gegenüber. In Zivil und in Uniform.
»Meine Mutter ist krank. Ich wollte nur kurz im Krankenhaus anrufen.« Er sprach jetzt leise.
Sie sah ihn an. Sein Gesicht war nett. Nein, es war schön. Er blickte ruhig zurück. Sein Blick klar und unverstellt. In seinen Augen lag etwas Sanftes und Trauriges. Er lächelte. Es war, als würde sich das Café in Luft auflösen, der Moment dauerte eine Ewigkeit. Er schien es auch zu spüren.
Erstaunt öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Dann musste er lachen. Miyu lachte mit ihm. Ohne die Hand vor den Mund zu halten. Er schüttelte lächelnd den Kopf und zuckte mit den Schultern. So, als wisse er den Moment auch nicht zu erklären.
»Miyu!« Akako eilte mit einem Eimer auf sie zu. Entschuldigend verbeugte sie sich kurz vor Seiji.
»Verzeih … am Tisch fünf ist eine Karaffe Sake zerbrochen. Weißt du, wo das Kehrblech ist?«
Der Moment war vorüber.
Seiji nickte ihr kurz zu und ging an den Tisch zurück.
Miyu spürte den Durchzug, sie suchte in der Abstellkammer nach dem Kehrblech. Als sie mit leeren Händen zurückkam, hatten Akako und Yumi schon alles aufgewischt. Der Tisch des Herrn Shimuzu, an dem Seiji gesessen hatte, war leer. Die Gäste waren bereits gegangen. Einen Moment lang stand sie da und starrte auf den leeren Tisch. Wartete auf ein Zeichen.
Den Rest des Tages wurde Miyu das Gefühl nicht los, die Begegnung mit Seiji sei Teil ihres Traums gewesen.
Fast, als hätte sie ihn sich nur eingebildet. Ihr Apartment war seltsam still. Sie stellte Musik an und versuchte zu lesen. Mit dem Buch in der Hand schlief sie ein. Auf der Couch. Es war ein traumloser Schlaf. Beim Aufwachen dachte sie an Seiji. War er vielleicht verheiratet? Das konnte nicht sein, er hatte sie zu lange angesehen.
Sie aß Suppe zum Frühstück und trank Tee. Dann wusch sie das Geschirr ab. Lange betrachtete sie ihre Hände. Stellte sich einen Ehering an der blassen Hand vor.
Sie musste sich die Nägel machen lassen. Es gab ein kleines Nagelstudio um die Ecke. Sie ging zu Fuß dorthin. Es herrschte großer Betrieb. Der scharfe Geruch von Aceton trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Einige Damen blätterten in Magazinen, es wurde geplaudert, die
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