Zehn (German Edition)
beheizten Tisch, unter den man seine Füße streckte. Kim, Aoki und Chan waren auch dabei. Sie hatten zusammen studiert und trafen sich hin und wieder. Alle schlürften die gehaltvolle Nudelsuppe und tranken Sake dazu. Ingeborga hatte Ikuko für sich bestellen lassen. Die Karte war nur auf Japanisch, und Ingeborga war neugierig auf alles.
Vergnügt blickte sie umher, sie konnte gut mit Stäbchen umgehen, das war ihm gleich aufgefallen.
Dieses Mädchen war anders. Wie ein Samurai, dachte er. Seine Großmutter hatte ihm als kleinem Jungen immer gesagt: »Tetsuo, wenn dich ein Samurai anblickt, dann weißt du, dass es ein Samurai ist. Er senkt seinen Blick nie, in seinen Augen wohnt der Mut. Ein Samurai kann in dein Herz sehen!«
Er stellte sie sich mit zwei Daishô, den Säbeln der Samurai, vor, wie sie mit wehendem Haar und glühenden Augen mutig das Restaurant gegen Yakuza verteidigte.
Innig hoffte er, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte. Er beugte sich über seine Suppe und sah eine ganze Weile nicht hoch.
Nach dem Essen löste sich die kleine Gruppe auf. Alle verbeugten sich zum Abschied, Ingeborga verteilte Umarmungen mit Küsschen.
Als er an der Reihe war, fragte er mutig: »Are you tired? Tokio is most beautiful at night.« Er hatte sich diese zwei Sätze bereits während des Essens zurechtgelegt und überlegt, ob es zu kühn sei, sie tatsächlich auszusprechen.
Vielleicht hatte ihn der Sake mutig gemacht.
Nein, sie wolle unbedingt eine Sightseeingtour machen, und zwar durch Golden Gai, das ganz in der Nähe lag.
Glück durchströmte ihn. Er hätte auf der Stelle umfallen können und wäre mit einem Lächeln gestorben.
Aber er verzog keine Miene: »Okay, let’s go!«
Es war still. Golden Gai war dunkel, wirkte fast verwunschen. Jetzt, unter der Woche, waren kaum Menschen unterwegs. Hin und wieder huschte eine Katze an ihnen vorbei. Es war kalt, man konnte ihren Atem sehen. Er hatte ihr erzählt, wie gefährlich einige Ecken in Golden Gai nachts waren. Mafia und so. Das Mädchen aus Schweden hatte gelacht und sich bei ihm untergehakt. »Then you are my bodyguard!«, hatte sie gesagt.
Sie waren an einigen Bars vorbeigeschlendert, waren durch dunkle, enge Gassen gelaufen, und Ingeborga war vor einem der unzähligen »Love hotels« stehen geblieben. Er hatte versucht, in gebrochenem Englisch zu erklären, dass Paare hier für einige Stunden allein sein konnten. Sie hatte aufmerksam zugehört und genickt.
Plötzlich war der Wind gekommen, als habe er ihn herbeigewünscht.
Ihr Haar wehte und wirbelte, und einmal berührte es leicht seine Wange. Sie fröstelte.
Er lieh ihr seinen Schal.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er zurück in seiner Wohnung war. Vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht zwei.
Jetzt strich er über die weiche Wolle.
Da war ein blondes, helles Haar. Ein einzelnes Haar. Vorsichtig nahm er es zwischen zwei Finger und legte es auf seinen Nachttisch. Dann nahm er die kleine lackierte Holzdose unter seinem Bett hervor und legte den güldenen Schatz vorsichtig hinein.
Wärme durchströmte ihn.
Nachdem sie zwei Stunden umhergelaufen waren und er versucht hatte, ihr kleine, aufregende Winkel und Gässchen zu zeigen, brachte er sie zu ihrer Wohnung zurück. Ohne ihn hätte sie sich im nächtlichen Tokio niemals zurechtgefunden.
Sie hatte ihn viel gefragt und aufmerksam seinen Erklärungen gelauscht. Er hatte ihr ein paar Fragen über Schweden gestellt, aber sie schien mehr Interesse an der nächtlichen Entdeckungstour zu haben. Sie hatten viel gelacht, und irgendwann war es zu kalt geworden. Vor der Tür des kleinen Wohnhauses waren sie voreinander stehen geblieben, und er war plötzlich nervös geworden.
Jetzt versuchte er sich ganz genau an alles zu erinnern.
Sie hatte ihn umarmt und gesagt, er solle sie anrufen.
In Japan gab es keine Umarmungen. Nicht so.
Er umarmte nicht einmal seine Mutter. Man verbeugte sich. So war das.
Sie hatte beide Arme um ihn geschlungen, seinen Nacken und seinen Rücken, und ihn leicht an sich gezogen. Sie hatte gelächelt und kurz die Augen geschlossen.
Fast hätten sich ihre Nasen berührt. Sie küsste ihm erst seine rechte, dann die linke Wange, leicht und ohne Scheu.
Er stand nur da, überrascht und erstarrt. Er verstand die Geste nicht. Freiwillig einer fremden Person so nah zu sein war in Japan undenkbar.
Dann rieb der fremde Engel
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