Zehn Milliarden (German Edition)
hinter Vallejo lichteten sich die Wolken und die ersten Sonnenstrahlen ließen die nasse Fahrbahn glänzen. Das milde, warme Licht weckte Erinnerungen an den letzten Sommer. Kaum zu glauben, dass noch kein Jahr vergangen war seit jener unbeschwerten Zeit. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto unsicherer fühlte sie sich, und als sie vor Anns Haus parkte, zog sich ihr Magen regelrecht zusammen. War er schon da? Tagelang, nächtelang hatte sie sich zurechtgelegt, was sie ihm sagen würde, aber jetzt waren die schönen Worte verschwunden, die Gedanken leer, und sie fühlte sich nur noch elend. Mit weichen Knien ging sie zum Haus. Sie brauchte nicht zu klingeln. Ann stieß die Tür auf und nahm sie wortlos in die Arme.
»Danke«, stammelte Julie. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Nicks sonst so emotionslose, harte Cousine strich ihr sanft über die Haare wie einem traurigen Kind.
»Komm erst mal rein, du zitterst ja.« Ann ergriff ihre Hand und zog sie ins Haus. Sie wollte in den Boden versinken vor Angst, plötzlich, endlich wieder Nick gegenüberzustehen. »Sie sind noch nicht da.«
»Sie?«
»Der gute Nick wollte unbedingt seinen Freund mitbringen. Hat wohl nicht den Mumm, dir allein zu begegnen. Feigling.« Die überraschende Nachricht beruhigte sie, als hätte er ihr einen Teil der lästigen Unsicherheit abgenommen.
»Vic kommt auch?« Ann nickte. Sie holte eine Kanne frisch gebrauten Kaffees aus der Küche und goss ohne zu fragen zwei Tassen ein.
»So, mein Kind, wir sollten deinen Plan besprechen.«
»Plan?« Julie schaute überrascht auf und erntete einen strengen Blick ihrer Vertrauten.
»Du hast doch einen Plan, wie du Nick überzeugen willst, hoffe ich.« Julie spielte verlegen mit dem Kaffeelöffel. Das war ja das Problem. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung wie sie es anstellen sollte. Kleinlaut antwortete sie:
»Ich weiß nicht, ich sage ihm einfach die Wahrheit.« Ann schüttelte den Kopf und sagte betont langsam, als redete sie mit einem begriffsstutzigen Kind:
»Aber wie? Meine Liebe, es gibt tausend Arten, die Wahrheit zu sagen.« Die Frage blieb unbeantwortet, denn sie hörten, wie ein Auto vor dem Haus anhielt. Kurz darauf wurden Türen zugeschlagen und das Auto entfernte sich wieder.
»Oh Gott, das sind sie. Was soll ich - ich warte draußen«, stammelte Julie aufgelöst. Sie sprang auf und verschwand durch die Gartentür auf die Veranda, wo sie sich in die hinterste Ecke zurückzog.
Nick wunderte sich, was die Leute in der schwarzen Limousine hier zu suchen hatten, die im Schritttempo vor dem Taxi durch die verschlafene Wohnstraße gefahren war. Noch mehr stutzte er, als er hörte, wie der Wagen mit den getönten Scheiben wieder zurückkehrte, als er Anns Haustür hinter sich zuzog. Durch den Vorhang sah er, wie die Limousine im gemächlichen Suchtempo am Haus vorbeifuhr und an der nächsten Kreuzung verschwand. Waren diese Leute hinter ihm her? Litt er an Verfolgungswahn? Jedenfalls konnten sie seine und Vics Ankunft unmöglich beobachtet haben, und wer wusste schon, dass sie hierher gereist waren?
»Begrüßt man so seine alte Cousine?« Ann stand hinter ihm und schaute ihm interessiert über die Schulter. »Faszinierende Aussicht, nicht wahr?«
»Ann, schön, dich zu sehen.« Er drehte sich um und herzte sie kräftig.
»Wie geht es Emily?«
»Ausgezeichnet«, antwortete Vic. Sie musterte den Unbekannten eingehend. Der streckte ihr lächelnd die Hand entgegen und stellte sich vor: »Vic, der Freund ihres Cousins.«
»Und Emilys Schatz, er muss es wissen«, ergänzte Nick trocken. Nach einem letzten Blick auf die Straße, folgte er den anderen ins Wohnzimmer. Julie war nirgends zu sehen. Er zupfte Ann am Ärmel und fragte nervös: »Ist sie da?« Sie deutete wortlos auf die Veranda. Er atmete tief durch und wandte sich zur Gartentür. Er durfte keine Zeit verlieren.
»Gib dir Mühe!«, zischte sie ihm ins Ohr, bevor er hinausging.
Julie hörte, wie die Tür aufgestoßen wurde. Ihr Herz sank noch tiefer, die Hände verkrampften sich im Schoß, und sie schloss die Augen. Reglos saß sie da, wagte kaum zu atmen. Ein Schmetterling setzte sich für einen Augenblick auf ihre Nasenspitze. Sie zuckte zusammen, riss erschreckt die Augen auf und blickte geradewegs in Nicks Gesicht.
»Es tut mir leid, Julie«, flüsterte er. Beschämt senkte er den Blick, als sie schwieg, nahm ihre Hände, berührte sie mit seinen Lippen und murmelte heiser: »Es tut mir leid, verzeih mir.«
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