Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehn Milliarden (German Edition)

Zehn Milliarden (German Edition)

Titel: Zehn Milliarden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
Vom Netzwerk:
Alpträumen. Das Geräusch kam aus dem Nebenraum. Vorsichtig spähte er durch den offenen Türspalt. Sein Blick fiel auf eine altertümliche Kommode mit Waschschüssel und den Zipfel eines grob karierten Bettüberzugs. Er trat ins Zimmer, und der Schreck fuhr ihm so heftig in die Knochen, dass er sich an die Tür klammern musste, um nicht in die Knie zu sinken. Auf dem fleckigen Bett lag der eine nackte Frau, mit Händen und Füssen an die Pfosten gefesselt. Der sonst schneeweiße Körper wies mehrere blau und gelb angelaufene Flecken auf, die offensichtlich von Misshandlungen stammten. Die Frau zerrte an den Fesseln und zuckte stöhnend hin und her. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Zitternd trat er näher.
    »Emily?«, hauchte er beklommen. Beinahe hätte er das bleiche Gesicht mit dem seltsam verzerrten Mund und den glasigen Augen nicht wiedererkannt. »Emily. Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht!«, rief er aus und begann fieberhaft, ihre Fesseln zu lösen. Sobald ihre Hände frei waren, schlug sie in wilder Panik, aber völlig kraftlos, auf ihn ein. Er versuchte sie zu beruhigen, nahm sie sanft in die Arme. »Emily, ich bin’s, Nick. Es wird alles gut.« Er hielt sie, bis sie aufhörte zu zucken und zu zittern. Als erwachte sie von ihrem Alptraum, versuchte sie, ihren Blick auf sein Gesicht zu fokussieren und lallte mit schwerer Zunge:
    »Nick? Du - hier?«
    »Schwesterchen, ich habe dich gefunden«, murmelte er albern, aber überglücklich. »Wir müssen schnell weg hier. Du brauchst was zum Anziehen. Wo sind deine Kleider?« Sie schaute ihn nur mit großen Augen an, schien noch nicht zu realisieren, was um sie herum geschah. Nicks Blick fiel auf die Kommode neben dem Bett. Neben dem Waschbecken lagen eine offensichtlich gebrauchte, blutige Spritze und eine flache Schale mit Resten einer farblosen Flüssigkeit. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Diese gottverfluchten Schweine , wetterte er innerlich. Die Zeit drängte. Er wollte diesen Kerlen, die offenbar zu allem bereit waren, auf keinen Fall über den Weg laufen. Statt wertvolle Minuten zu verlieren, um Kleider zu suchen, wühlte er in seinem Rucksack und förderte seine Ersatzkleider zutage. In diesem Moment dankte er Julie inständig dafür, dass sie darauf bestanden hatte, auch ein zweites Paar Schuhe einzupacken. Ohne Emily ganz loszulassen, bemühte er sich fieberhaft, sie einzukleiden.
    »Gehen wir, komm.« Halb stützte er sie, halb schleppte er sie durch die Wohnküche und den Vorraum zur Haustür. Da kein Schlüssel zu sehen war, eilte er in die Küche zurück, riss die schwerste Bratpfanne vom Gestell und schickte sich an, die altersschwache Tür zu zertrümmern, aber ein knarrendes Geräusch ließ in mitten in der Bewegung erstarren. Er schob einen Vorhang vorsichtig ein Stück zur Seite. Ein großer, drahtiger Mann kam über den Steg gemächlich auf das Boot zu. Das musste der Dünne sein, von dem der Wirt im Bullfrog erzählt hatte. Er konnte sich auch später nicht erklären, weshalb, doch anstatt in wilde Panik zu verfallen, begann in diesem Augenblick sein Gehirn, mit messerscharfer Logik zu arbeiten. Alle Sinne und Gedanken waren nur noch auf ein Ziel ausgerichtet: weg hier, Emily in Sicherheit bringen. Jeder andere Gedanke wurde kompromisslos ausgeblendet. Als hätte er die Handgriffe dutzendfach geübt, schob er einen Stuhl unter den Türgriff, um den Fremden aufzuhalten, warf in Sekundenschnelle alles, was sich in Reichweite befand, auf den Boden. Er zog Emily zurück in die Wohnküche, wo er die Prozedur in Windeseile wiederholte, den Eingang mit dem Tisch verbarrikadierte, Kästen und Kühlschrank aufzerrte, jeden Hahn aufdrehte, den er in die Finger kriegte. Von seinem Rundgang erinnerte er sich genau, dass sich am Bug vor ihnen eine weitere Tür befand.
    Sie hatten sie beinahe erreicht, als lautes Fluchen und Poltern aus dem Vorraum zu ihnen drang. Diese Tür war von innen verschlossen, und der Schlüssel steckte. Wenige Sekunden später hievte Nick seine immer noch benommene Schwester ins Beiboot, das er zuvor gesehen hatte. Das Poltern und Krachen hinter ihnen kam bedrohlich näher, doch Nick löste unbeirrt das Tau vom Bug des Wohnboots und stieß kräftig ab. Nur weg hier , alles andere war jetzt unwichtig. Er riss an der Leine des Außenbordmotors, einmal, zweimal, dreimal, doch der verdammte Motor wollte nicht anspringen. Wenigstens befanden sie sich inzwischen einige Meter vom großen Schiff entfernt.

Weitere Kostenlose Bücher