Zehn zärtliche Kratzbürsten
eingefallen.
Rauno Rämekorpi beschloss, Sonja anzurufen, eine alte Freundin, die ihn früher mehrfach für verschiedene Zeitungen interviewt hatte. Sonja war bereits über sechzig und Journalistin, arbeitete neuerdings frei. Im Grunde genommen war sie in einem Maße alkoholisiert, dass sie von sich aus keinen Wert darauf legte, für ein festes Gehalt in einer bestimmten Redaktion zu arbeiten. Sie schrieb für viele Zeitu n gen, interviewte bekannte Persönlichkeiten und machte hin und wieder Reportagereisen. Häufig hatte sie auch Artikel über den Rämeko r pi-Konzern verfasst, zumeist für das Handelsblatt oder Suomen Kuvalehti. Am meisten arbeitete sie jedoch für die Zei t schriften Anna und Apu.
Sonja freute sich gewaltig, als sie die Stimme des Industrierates hörte. Sie hatte nämlich schon fast die Hoffnung aufgegeben, für diesen Abend geeignete Saufkumpane zu finden. Ihr selbst fehlte es am Geld, wie immer. Dem Himmel sei Dank, dass der alte Bekannte und Industrieboss sich an die einstige Gespielin erinnerte. Sonja lud ihn zu sich in die Iso Roobertinkatu ein. Sie wusste, dass er sechzig geworden war. Das war doch wahrhaftig Grund genug, ein paar Gläser zu kippen. Prima, wenn er Champagner mitbringen würde, den konnte sie brauchen.
Sorjonen erklärte, er werde inzwischen in seine Wohnung nach Lauttasaari fahren. Rauno könne ihn jederzeit auf dem Handy anr u fen, er sei dann sofort zur Stelle, um die Fahrt fortzusetzen, falls Bedarf bestehe. Er äußerte die Vermutung, dass im Laufe des A bends noch etliche Touren anfallen würden. Rauno gab zu, dass das Leben neuerdings mächtig in Bewegung geraten sei.
Sonja Autare wohnte in einer geräumigen Wohnung in einem Et a genhaus ganz am Ende der Fußgängerzone , wo es sanft bergauf ging. Rauno wählte einen Strauß roter Rosen, die ihm, soweit er sich erinnerte, der stellvertretende Geschäftsführer des Industrieverbandes bei der Feier überreicht hatte. Weg mit der Glückwunschkarte, dann zwei Flaschen Champagner und Eiswürfel in die Kühltasche gepackt. In der sechsten Etage stand die Wohnungstür bereits einladend offen. Dort wartete Sonja Autare im Morgenrock auf ihren Gast. Sie hatte nicht den Versuch gemacht, sich in Schale zu werfen. Ihre Frisur war nach flüchtiger Behandlung mit dem Kamm halbwegs in Ordnung, außerdem hatte sie sich die Lippen rot angemalt, und aufdringlicher Parfümgeruch hing im Raum. Rasch half sie Rauno Rämekorpi aus dem Frackjackett und schaffte das Eis und die Getränke in den Kühlschrank, auf dem Rückweg brachte sie eine der beiden Flaschen gleich mit, die sie unterwegs mit geübten Griffen geöffnet hatte.
Die Wohnung sah schlimm aus. Das Wohnzimmer war in einem schrecklichen Zustand, leere Bierkästen und zahlreiche Flaschen standen herum, die Stühle waren überall im Raum verteilt, die Sofakissen lagen auf dem Fußboden. Die Tür zum Schlafzimmer stand sperrangelweit offen. Das Bett war nicht gemacht, auf dem Nachtschrank prangte ein schmutziges Weinglas. Alles in allem also ein typisches Bild für eine Alkoholikerin, die in der Hauptstadt lebte. Sonja machte sich nicht die Mühe, die schlimme Unordnung irgen d wie zu erklären, sondern goss Champagner in zwei Gläser, die sie flüchtig mit dem Saum des Morgenrocks auswischte.
Mit der Gier einer Säuferin, die auf dem Trockenen gesessen ha t te, hob Sonja Autare das Glas an die Lippen und trank, trank wie ein trockener Schwamm den kalten Champagner in sich hinein, und als das Glas leer war, atmete sie mit geschlossenen Augen tief durch – es war fast, als wollte sie anfangen zu schnurren wie eine Katze, die im Begriff war einzuschlafen. Rauno Rämekorpi beeilte sich, das Glas neu zu füllen, und dieselbe Prozedur wiederholte sich.
Sonja: Jesses, was bin ich für eine hoffnungslose Säuferin.
Rauno gab zu, dass auch er nicht gerade abstinent war, doch auf dem Gebiet des Saufens schlug ihn die alte Journalistin um Längen. Wohin Sonja auch ging, stets schlürfte sie irgendetwas, und wenn es nur Bier war, und woher sie auch kam, stets hatte sie ein Glas oder eine Flasche in der Hand.
Das sollte kein Tadel sein, denn die Helsinkier Journalisten in Sonjas Alter waren entweder längst am Suff gestorben oder hielten sich mit Mühe zwischen Straßengraben und Kater aufrecht. Rauno Rämekorpi erinnerte sich sehr gut daran, dass vor zwanzig, dreißig Jahren die Geschäftswelt die Presseleute ganztags unter Alkohol gesetzt hatte. Nebenbei waren auch die
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