Zehn zärtliche Kratzbürsten
dass sie mit ihren Problemen nicht allein dastand.
Rauno Rämekorpi fragte, ob sie ihre Miete und die anderen la u fenden Kosten bezahlt habe. Er hatte ihr bereits früher gelegentlich bei der Miete unter die Arme gegriffen, aber sie hatte das Darlehen stets zurückgezahlt.
Sonja beteuerte, dass sie zurechtkomme, obwohl sie tatsächlich Unmengen teurer Getränke durch die Kehle gejagt habe. Sie erzählte, dass Leena, ihre ältere Schwester, die bereits achtzig und Witwe eines Hauptwachtmeisters war, ausgerechnet hatte, wie viel die kleine Schwester im Laufe ihres Lebens versoffen hatte.
Sie suchte nach den Briefen der alten Dame, die sie im Laufe der Jahre aus Kuusamo von ihr bekommen hatte. Die Briefe enthielten die üblichen Grüße und Wünsche, doch der hauptsächliche Inhalt bestand aus Belehrungen und Aufforderungen zur Abstinenz. Leena betrieb das auf geradezu penetrante Weise, indem sie zum Beispiel sorgfältig Buch führte über das Geld, das Sonja fürs Saufen ve r schwendet hatte.
Damit die Aufklärung wirklich konkrete Formen annahm, hatte Leena die Summen monatlich erfasst und das Geld dann in prakt i sches Vermögen umgerechnet. Sie hatte alles rückwirkend bis zum Beginn der Sechzigerjahre berechnet, denn damals hatte Sonja ihre ersten Erfahrungen mit dem Trinken gemacht. Leena hatte ihre Schwester in den zurückliegenden Jahren häufig besucht, sodass sie über deren Lebenswandel, den konsumierten Alkohol und die dafür aufgewendeten Geldsummen gut informiert war.
Sonja: Man denke, dass sich jemand diese Mühe macht, dazu noch die eigene Schwester!
Leenas Buchhaltung war perfekt. Sie hatte von ihren Kostenau f stellungen Kopien angefertigt, es waren Hunderte. In guter Buchha l termanier hatte sie korrekte Jahresbilanzen aufgestellt und die e r rechneten Summen jeweils aufs nächste Jahr übertragen. Rauno Rämekorpi sah, dass Sonja, die jetzt um die sechzig war, nach den Berechnungen der Schwester im Verlaufe ihres Lebens 4672755 Mark versoffen hatte. Diese Summe samt der Zinsen hatte Leena in Eigentum umgerechnet, das die Schwester für das Geld hätte erwe r ben können.
Für das Kapital nämlich hätte Sonja im Zentrum von Kuusamo ein Warenhaus und zusätzlich noch zwölf Kilometer Landstraße oder, alternativ, drei Wildmarkseen kaufen können.
Sonja: Was, verdammt noch mal, sollte ich wohl mit einem laestadianischen Warenhaus anfangen? Und aus meiner Sicht ist es besser, sich anständig zu besaufen als sein Geld in irgendwelche Tümpel mit schwarzem Wasser oder in dreckige Dorfstraßen zu investieren. So viel zu Leenas Hobby.
Rauno sagte darauf, dass Leena tatsächlich eine sehr spezielle M e thode angewandt hatte bei ihrem Versuch, die kleine Schwester auf den schmalen Pfad der Abstinenz zurückzuführen. Zwar hieß es allgemein, dass die Säufer im Laufe ihres Lebens ein ganzes Haus durch die Kehle jagten, aber dass es in Sonjas Fall sogar ein Ware n haus und mehr als zehn Kilometer Straße waren, alle Achtung!
Sonja verkündete, dass sie nie und nimmer zu Weihnachten ihre Schwester in Kuusamo besuchen werde. Lieber schlage sie die Zeit allein in einem Kurhotel tot. Hoffentlich kreischten dort keine Kinder im Schulalter herum. Diese kleinen Teufel könne heutzutage ni e mand mehr bändigen, schimpfte sie – umbringen müsste man sie, wenigstens die schlimmsten Schreihälse, als Abschreckung für die anderen.
Sie klagte sich darüber aus, wie elend Feiertage für eine Frau wie sie waren. Die großen Familienfeste waren am schlimmsten. Dann war die Einsamkeit buchstäblich greifbar, die Straßen waren ve r waist, man konnte nirgendwo hingehen, ein alleinstehender Mensch fühlte sich seltsam schuldig und separiert, so als gehörte er gar nicht zur gemeinsamen Nation. Silvester zu feiern klappte ja noch hal b wegs, am ersten Mai konnte auch der Alleinstehende sich unter die Feiernden mischen, und an Mittsommer fand sich ebenfalls eine barmherzige Säuferrunde, die den Einzelkämpfer bei sich am Lage r feuer aufnahm, besonders, wenn derjenige halbwegs anständig aussah, aber zu Weihnachten mochte niemand den Familienlosen in der Wärme seines Herdes begrüßen.
Sonja: Weihnachten ist das grausamste von allen großen Festen. Für unsereinen bedeutet es eine tagelange Hölle.
Sie fing an zu weinen, hängte sich Rauno an den Hals und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er bekam Mitleid mit der alten versoffenen Journalistin und überlegte schon, ob er sie zu Weihnachten zu sich nach Hause
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