Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
und Ziel sein muss. Das ist die Kunst der wahren Meister.«
Ich bin ein wahrer Meister!
Ich bin ein begnadeter Künstler!
Wie bei einer Meditation atmete er in tiefen Zügen ruhig ein – und aus, ein – und aus, ein – und aus. Hoch konzentriert näherte er sein Auge dem Zielfernrohr, während zeitgleich der rechte Zeigefinger den Abzugshahn berührte und leichten Druck auf ihn ausübte.
7
Sabrina Schauß hatte Bereitschaft. Sie saß an ihrem Schreibtisch und verfasste gerade einen Bericht über die Recherchen, die sie in Marcel Christmanns persönlichem Umfeld durchgeführt hatte. Ihr nachdenklicher Blick begleitete den Sekundenzeiger der Wanduhr bei seiner monotonen Tätigkeit, als das Telefon läutete.
Die Einsatzzentrale teilte ihr mit, dass gerade ein Spaziergänger angerufen und einen Leichenfund gemeldet habe. Wieder wurde der Tote auf einem Sportgelände entdeckt. Sofort informierte die junge Kommissarin ihren Chef. Auf seine Order hin machte sie Zörntleins Aufenthaltsort ausfindig, holte ihn in einem Restaurant in der Innenstadt ab und fuhr mit ihm in die Beethovenstraße, wo Tannenbergs Familie noch immer einträchtig beisammensaß.
Aufgrund der gebotenen Eile stellte Tannenberg Zörntlein nur mit wenigen Worten vor. Dabei registrierte er sehr wohl die Reaktionen seiner weiblichen Familienmitglieder, deren Augen sich an dem Clooney-Double gar nicht sattsehen konnten. Selbst seine Schwägerin hatte dieser Anblick offensichtlich geradezu verzaubert. Obwohl Betty doch stets betonte, dass für sie nur die inneren Werte eines Menschen zählten und Äußerlichkeiten sie nicht im Geringsten beeindrucken könnten.
Von wegen, dachte Tannenberg. Gott sei Dank ist Johannes glücklich verheiratet und hat vier Kinder. Sonst müsste ich jetzt ganz schön eifersüchtig auf ihn sein und Angst um Hanne haben. Demonstrativ drückte er seiner Lebensgefährtin einen dicken Abschiedskuss auf die Lippen. Damit dir Schönling ein für alle Mal klar ist, wer bei diesem traumhaften Geschöpf der Platzhirsch ist, grenzte er tonlos sein Revier ab.
Zörntlein schien seine Gedanken zu erraten, denn er bedachte ihn mit einem süffisanten Lächeln.
Der direkte Weg zu der am sogenannten ›Kniebrech‹ gelegenen Schießanlage des Polizeisportvereins führte über die Barbarossastraße und an der Jugendverkehrsschule vorbei. Etwa fünfzig Meter hinter der engen Eisenbahnunterführung stieß Tannenberg plötzlich ein merkwürdiges Grunzgeräusch aus.
»Was ist denn, Wolf?«, fragte Sabrina verdutzt.
»Ach, eigentlich nichts Besonderes«, gab ihr Chef zurück. »Mir ist nur gerade etwas aufgefallen.«
»Und was?«
»Na ja, früher war hier an dieser Stelle eine tiefe Bodenwelle. Die war richtig kriminell. Und jetzt ist sie mit Asphalt aufgefüllt – einfach weg. Da hab ich mir mal den Auspuff an meinem alten R 4 abgerissen.« Er seufzte. »Ich war schon ewig nicht mehr in dieser Gegend.«
Er drehte sich zu Zörntlein um, der auf der Rückbank des Dienstwagens saß. »In den Siebzigerjahren fanden hier oben Terroristenprozesse statt. Mehrere RAF-Mitglieder wurden angeklagt und zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Damals war das gesamte Areal ein regelrechter Hochsicherheitsbereich«, erklärte Tannenberg, während das Zivilfahrzeug zum Stillstand kam.
Die Kriminalbeamten stiegen aus dem Mercedes-Kombi und gingen auf ein grün gestrichenes, zweiflügeliges Tor zu.
»Wirklich? Davon hab ich noch nie etwas gehört«, gestand Zörntlein.
»Doch, Johannes, ich weiß, man kann sich das heute kaum mehr vorstellen, aber Kaiserslautern war tatsächlich einmal ein Brennpunkt der Terrorszene. Und das schon lange vor dem sogenannten ›Deutschen Herbst‹. Du erinnerst dich: 1977 – die Schleyer-Entführung.«
Zörntlein nickte. »Ja, natürlich erinnere ich mich. Das war die Sache mit der Kaperung der Lufthansamaschine ›Landshut‹.«
»Richtig.«
»Die durch den Einsatz der GSG 9 unblutig beendet wurde«, entgegnete Zörntlein und fügte nach einer kurzen Pause einschränkend an: »Zumindest im Hinblick auf die Geiseln.«
»Genau. Sechs Jahre zuvor, also 1971, hat die RAF während eines Banküberfalls einen Polizeibeamten erschossen. Mitten in unserer Stadt – am helllichten Tag!« Wütend kickte Tannenberg einen Kieselstein in die Böschung. »Später hat man am Stadtrand eine konspirative Wohnung ausfindig gemacht, in der die Fingerabdrücke der meistgesuchten RAF-Mitglieder entdeckt
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