Zehntausend Augen
Annika so unkompliziert war, trotz ihrer beiden Kinder. Irgendwie schien bei ihr immer alles ganz einfach zu gehen.
Das Paradieso war Annikas Lieblingsbar. Ein stylischer Tresen, teilweise aus Glas und von innen beleuchtet, Palmen und Sitznischen mit Fototapeten aus der Südsee. Die sommerlich heißen Temperaturen in Berlin passten gut zu dem Ambiente, genauso wie Annika, die ein blumiges, leichtes Kleid trug und schon in einer Nische auf Ellen wartete.
»Hallo, Schwesterherz«, rief Annika, als sie Ellen entdeckte, und winkte auch schon der Bedienung. »Ich nehme einen Tequila Sunrise, und du?«
Annika trank immer entweder Sunrise oder Sex on the Beach. Ellen war weder nach dem einen noch dem anderen zumute. »Ich nehme eine Bloody Mary – sehr bloody!«
»Wow«, sagte Annika, »dich hat's aber wirklich erwischt. Da bin ich aber neugierig. Liebeskummer?«
»Nein.«
»Hätte mich auch gewundert. Was denn?«
»Es ist im Job.« Ellen wusste nicht so richtig, wie sie anfangen sollte.
»Ich hab gesehen, dass du überall in den Zeitungen bist. Sogar im Fernsehen. Du bist ein richtiger Star.«
»Von wegen ›Star‹. Durch die Mühle werde ich gedreht. Vorgeführt.« Bei Annika fiel Ellen das Reden leicht. Sie musste sich keinen Zwang antun. Annika konnte sie vertrauen. So locker ihre Sprüche waren, Annika konnte absolut dichthalten.
Ellen erzählte, ohne dass Annika sie unterbrach. Erst am Schluss fragte sie: »Und was sagt dein Chef dazu?«
»Direktor Brahe findet Kronens Verhalten mit Sicherheit nicht gut, aber gegen den Polizeipräsidenten kann er auch nichts ausrichten.«
»So ein Weichei. Wie ist der bloß Chef des LKA geworden?« Annika besaß keinen Respekt vor Autorität oder Konventionen. Sie hatte einmal ihrem Chef ein Glas Rotwein übers Hemd gekippt, als der sie blöd anmachen wollte. Natürlich hatte sie dadurch ihren Job verloren, doch das war eine andere Geschichte.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte sie.
»Wenn ich das wüsste. Ich habe keine Ahnung. Deshalb rede ich ja mit dir. Vielleicht hast du eine Idee?«
»Hm. Es kommt drauf an, was du willst. Willst du vor diesen vermeintlich starken Männern kuschen wie ein kleines Mädchen?«
»Auf keinen Fall.«
»Richtig so! Du wirst es ihnen zeigen – und ich werde dir dabei helfen.«
»Danke. Du hast einen Wunsch frei bei mir.«
Annikas Energie tat Ellen gut. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie Annikas Hilfe aussehen sollte, war es einfach eine Wohltat, einmal nicht gegen jemand ankämpfen zu müssen. Ellen bestellte noch einen Tequila Sunrise für Annika und eine bloody Bloody Mary für sich. »Heute geht die Rechnung auf mich.«
»Gerne, Schwesterchen. Ich habe auch schon einen Wunsch.«
»Und was?«
»Weißt du, ich habe da so einen Typen kennengelernt. Sieht super aus, und stell dir vor: Er hat ein Segelboot! Er hat mich für ein Wochenende eingeladen. Ist das nicht irre?« Annika strahlte Ellen an, als ob sie das erste Mal verliebt wäre.
»Aha. Und ich soll auf Hanna und Elias aufpassen?«
»Ich wusste, dass du sofort darauf kommst. Du bist eben eine kluge Schwester. Es macht dir doch nichts aus?«
Ellen tat so, als müsste sie erst mal nachdenken. Natürlich machte ihr es nichts aus. Sie war sehr gerne mit den Kindern zusammen, aber Annika hatte eine Art, einen für ihre Pläne einzuspannen, das war schon beeindruckend. Allerdings wollte sie ja auch, dass Annika ihr half. Eine Hand wusch eben die andere.
»Du weißt doch, dass ich das gerne mache, wenn ich Zeit habe. Wie kommst du eigentlich immer an einen Kerl? Bei mir klappt das nie.«
»Ist das so schwer zu verstehen? Sieh dich an. Jeans und Turnschuhe. Das ist nicht gerade das, worauf die Männer fliegen. So langweilig, wie du herumläufst, denkt jeder, du bist verheiratet.«
Wenn Annika wüsste, was Hassan zu ihrem BH gesagt hatte … Trotzdem war Annikas Antwort nicht das, was Ellen hören wollte. »Es kommt ja nicht nur aufs Äußere an.«
»Unterschätz das bloß nicht. Wenn du keinem Mann ins Auge fällst, wie soll dann jemand deine inneren Werte entdecken? Sieh mich an. Ich bin vernünftig geschminkt, meine Haare laden die Männer zum Hingucken ein, und erst meine Beine …« Dabei streckte Annika ihre Beine aus, damit Ellen sie in ihrer ganzen Länge bewundern konnte, und nicht nur Ellen. Annika beugte sich vor und sagte leise: »Wenn du nicht hier wärst, wäre ich schon längst zu einem Drink eingeladen worden. Glaub mir.«
»Hm.«
»Du hast keine
Weitere Kostenlose Bücher