Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
Vom Netzwerk:
treffen.«
    Stefan verzog das Gesicht. So hatte er sich das wohl doch nicht vorgestellt.
    Kronen baute sich vor Ellen auf. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als dass Sie die Kommunikation mit dem Erpresser weiterführen. Wer weiß, was noch kommt.«
    Ellen schwieg, obwohl in ihr die Wut kochte. Brahe hatte im Prinzip alles gesagt, und wenn Kronen nicht für die Argumente ihres Chefs zugänglich war, dann schon gar nicht, wenn sie selbst den Mund auftat. Alles, was sie zu sagen hatte, konnte die Sache nur verschlimmern. Es war, als würde Ellen jemand die Luft abschnüren. Sie musste raus aus diesem Meeting.
    »Ich spreche alles mit Direktor Brahe ab«, sagte sie. Ihre Kehle war trocken. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, verließ Ellen den Raum.

16
     
    Ich stecke in einer Sackgasse.
    Falsch! In einer Sackgasse konnte man immer noch umkehren. Selbst diese Möglichkeit hatte Ellen nicht. Es gab kein Zurück. Die Sackgasse war nach allen Seiten zu – und neben ihr lag eine Bombe, und der Zünder tickte.
    An sinnvolle Arbeit war jetzt nicht zu denken. Also konnte sie auch gehen. Spät genug war es und ihr Dienst eigentlich schon lange zu Ende. Aber – gehen wohin? Nach Hause? Und dann? Sich mit Rotwein abfüllen? Morgen weitermachen wie gehabt? Ellen gelangte in einen Flur, in dem kein Mensch zu sehen war. Seit der letzten Umstrukturierung standen die Büros hier leer. Sie setzte sich in einer Ecke auf den Boden, schloss die Augen und drängte die Probleme zurück.
    Ich brauche eine neue Sicht auf die Dinge.
    Ellen ließ ihre Gedanken laufen. Das war der sicherste Weg, um wenigstens aus einer gedanklichen Sackgasse herauszukommen. Irgendwann drängte ein Name in den Vordergrund: Annika.
    Annika war Ellens Schwester. Sie war sechs Jahre jünger. Ihr Vater hatte sich davongemacht, bevor Annika eine tiefere Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Ohne es zu wollen, war Ellen in die Rolle gerutscht, Verantwortung zu übernehmen. Sie musste stark sein und auf ihre Schwester aufpassen, während ihre Mutter mit mehreren kleinen Jobs versuchte, die Familie finanziell über Wasser zu halten. In der Pubertät hatte sich dann einiges geändert. Annika war noch mal zwei Zentimeter kleiner als Ellen und betrachtete diese Differenz als Herausforderung. Ellen erinnerte sich noch genau an Annikas sechzehnten Geburtstag.
    Annika war auf hohen Absätzen mehr in den Raum geschwankt als gegangen. Dann hatte sie auf Ellen herabgesehen und zu ihr gesagt: »Na, meine Kleine?«
    Den Triumph, endlich größer als die ältere Schwester zu sein, ließ sich Annika nie mehr nehmen. Kaufte Ellen sich Schuhe mit drei Zentimeter Absätzen, legte Annika noch zwei Zentimeter drauf. Irgendwann lief sie nur noch mit hohen Absätzen herum, was Ellen nicht nachvollziehen konnte. Für sie war Praxistauglichkeit der oberste Maßstab.
    Äußerlich waren sich die Geschwister sehr ähnlich. Annika war genauso schlank wie Ellen und hatte auch die gleichen blonden Haare. Innerlich waren sie grundverschieden. Annika genoss das Leben, während Ellen Verantwortung übernahm. War Annika ein Job zu blöd, suchte sie sich einen neuen. Beamtin auf Lebenszeit zu werden wie Ellen, war das Letzte, was Annika in den Sinn gekommen wäre. Wenn jemand auf der Welt einen anderen Blickwinkel als Ellen besaß, dann Annika. Die Rivalitäten von früher waren zu Spielereien geworden. Annika und Ellen trafen sich oft. Und wenn es war, weil Ellen auf Annikas Kinder, Hanna und Elias, aufpasste, damit Annika mal wieder in die Disco oder einen Club gehen konnte.
    Ellen nahm es Annika nicht übel. Sie liebte Hanna und Elias sehr. Aber Ersatz für einen davongelaufenen Vater wollte Ellen nicht noch einmal werden.
    Ellen nahm ihr Handy und wählte Annikas Nummer. »Annika? Hast du Zeit? Ich muss reden.«
    »Schwesterchen, du hörst dich an wie ein Goldfisch, der aus Versehen in einen Mixer gefallen ist. Was ist los?«
    Es war so typisch für Annika, dass sie Ellen »Schwesterchen« nannte, obwohl Annika die Jüngere war. »Ich kann hier im LKA nicht reden. Können wir uns treffen?«
    »Klar. Ich muss nur sehen, was ich mit Hanna und Elias mache. Die sollen sicher nicht dabei sein.«
    »Wenn es sich vermeiden lässt, heute besser nicht.«
    Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Annika: »Moni könnte auf die beiden aufpassen. Die ist mir noch was schuldig. Also, in einer Stunde im Paradieso?«
    »Ich bin da.«
    Ellen atmete auf. Wie gut, dass

Weitere Kostenlose Bücher