Zehntausend Augen
wäre ich nicht hier. Es ist wirklich nicht meine Art, nachts in fremden Treppenhäusern herumzusitzen.«
Ellen wollte Becker energisch zurechtweisen, was für einen Unsinn er redete, aber dann hielt sie inne. Sie hatte keine SMS geschrieben, das stand fest. Andererseits wirkte der Mann nicht wie ein Spinner. Er strahlte eine gewisse Autorität aus. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Zeigen Sie mir die SMS«, forderte Ellen. »Und wenn Sie das nicht können, verschwinden Sie auf Nimmerwiedersehen.«
Becker zog sein Handy aus der Tasche. »Hier ist sie.«
Er hielt Ellen sein Gerät hin, damit sie sich selbst überzeugen konnte.
Vielleicht war es nur ein Irrtum, aber die plötzliche Anspannung in Ellens Magen ließ diesen Gedanken nicht beruhigend wirken. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die SMS las.
»Danke für Ihr Angebot. Lassen Sie uns in Ruhe reden. Heute Abend bei mir privat. KHK Faber«, stand da. Es folgte noch ihre Adresse. Ellen las den kurzen Text mehrfach durch. Er änderte sich nicht. Sie kontrollierte die Rufnummer des Absenders. Es war ihre.
»Das ist doch Ihre Nummer?«, fragte Becker. »Ich habe es extra kontrolliert.«
Ellen schluckte kräftig, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Ja, das ist meine Nummer.« Jetzt klang sie nicht mehr selbstbewusst wie vorhin. Was wird hier gespielt?
»Also, was ist nun mit unserer Verabredung? Ich habe sehr lange gewartet.« Jetzt klang Becker verärgert.
Ellen konnte ihn verstehen. Becker trug keine Schuld. Wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, was hier vor sich ging.
Soll ich ihn einweihen? Ihm alles erklären? Ellen entschied sich dagegen. Becker konnte ihr in dieser Frage nicht helfen, und Erklärungen kosteten nur Zeit. Sie musste selbst herausfinden, was los war.
Irgendjemand hatte die SMS manipuliert. Wie dieser Jemand an ihre Nummer gekommen war und wie er die Manipulation fertiggebracht hatte, sollten die Techniker von der KTU klären. Wichtiger war, warum er es getan hatte. Dass dieser Jemand mit dem Erpresser identisch war, stand für Ellen fest.
Warum will der Erpresser, dass ich mit diesem Becker spreche? Das konnte sie nur herausfinden, wenn sie sich jetzt Zeit für Becker nahm.
»Entschuldigen Sie bitte meine schroffe Art eben. Ich habe einen sehr anstrengenden Tag hinter mir und unsere Verabredung komplett vergessen. Bitte kommen Sie herein.«
Ellen war nicht auf Besuch eingestellt. Entsprechend sah es in ihrer Wohnung aus. Wenn Becker ein anderes Ambiente gewohnt war, dann tat er zumindest so, als würde er die Unordnung nicht bemerken.
Einen Cognac lehnte er dankend ab. »Ich habe eine lange Nacht mit viel Arbeit vor mir und muss dafür fit sein.«
»Und ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Morgen wartet ein schwieriger Tag auf mich. Können Sie mir in fünf Minuten erklären, was Sie von mir wollen?«
Becker lächelte. »Das sollte für einen Vertriebsprofi keine Herausforderung sein. Sagen wir es so: Wenn ich in fünf Minuten nicht Ihr Interesse geweckt habe, dann gehe ich.«
»Einverstanden. Schießen Sie los.«
»Sie haben ein Problem mit Ihren Übertragungskapazitäten. Das behindert Ihre Arbeit und gefährdet die Bevölkerung.«
Ellen zuckte mit den Schultern. »So steht's in jeder Zeitung.«
»In diesem Fall glaube ich, dass die Zeitungen recht haben. Und ich kann Ihnen beweisen, dass Sie dieses Problem nicht lösen können, gleichgültig, was Ihre Techniker oder Ihr Provider versuchen. Aber wir können es. Und wenn ich ›wir‹ sage, meine ich die Firma Intelko. Wir haben ungefähr zehn Millionen Kunden und wissen also mit großen Zahlen umzugehen. Ich bin der Marketingleiter.«
Interesse erwachte in Ellen. Becker wirkte seriös.
»Sie können beweisen, dass wir unser Problem nicht in den Griff bekommen werden? Das möchte ich sehen!«
»Gerne.« Becker holte einen Laptop aus seinem Aktenkoffer und klappte ihn auf. »Es dauert einen Moment, die Verbindung zu unserem Rechenzentrum aufzubauen«, erklärte er. »Dafür sehen Sie gleich Live-Daten. Ich habe mir erlaubt, Ihre Nutzerzahlen zu verfolgen.«
» Unsere Nutzerzahlen?«
»Ja, die Leute, die Ihre Seite angeklickt haben – oder sie gerne angeklickt hätten, wenn es denn möglich gewesen wäre. Als Internet-Unternehmen hat man da so seine Quellen.«
Auf dem Monitor erschien eine Grafik mit vielen schmalen Balken unterschiedlicher Länge.
»Jeder Balken zeigt die Nutzerzahl im Abstand von jeweils fünf Minuten. Die Zeiten, in denen keine
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