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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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mit einem energischen Schwung auf die linke Spur und beschleunigte.
    »Das gibt's doch nicht«, rief Kalle. »Die will uns tatsächlich davonfahren.«
    »Red nicht. Fahr hinterher«, befahl Eberle.
    Die Faber zog das Tempo hoch. Kalle blieb ihr dicht auf den Fersen. Bald war sie hinter einem Lieferwagen, der fünfzig fuhr. Sie fuhr immer dichter dran – und dann überholte sie ihn rechts. Kalle musste eine Lücke abwarten, um ebenfalls rechts überholen zu können, und die Faber gewann einen kleinen Vorsprung.
    »Das glaub ich jetzt nicht.« Kalle starrte auf die Tachonadel, die auf die siebzig zustrebte.
    Kalle war, wie die Faber, wieder auf die linke Spur gewechselt. Jetzt hatte er freie Fahrt und beschleunigte. Er sah, wie sich die Faber aus dem Sattel hob und ganz flach machte, um dem Wind keinen Widerstand zu bieten. Ihre Beine gingen in rasend schnellem Rhythmus auf und ab.
    »Die fährt ja immer schneller«, rief Kalle.
    »Red nicht, du Affe. Gib Gas. Ich lasse mich doch nicht von einer Frau auf einem Fahrrad abhängen«, zischte Eberle. Er hob die Faust.
    Kalle tat, was Eberle wollte.
    Kalle sah, wie die Faber kurz aufblickte. Und dann sah er sie auch – die Radarfalle. Im gleichen Moment blitzte es auch schon. Einmal. Und sofort noch einmal.
    Kalle war so verdutzt, dass er fast vergaß zu bremsen. Er hatte Autos erreicht, die mit den erlaubten fünfzig fuhren. Die Faber fuhr mit ihrem Rad einfach zwischen ihnen durch, aber vorher zeigte sie ihm noch hinter ihrem Rücken den ausgestreckten Mittelfinger.
    »Die hat uns reingelegt, dieses Biest«, brüllte Kalle. »Die hat uns bewusst in die Radarfalle gelockt.« Er hieb wütend auf das Lenkrad.
    Eberle ignorierte seinen tobenden Kollegen. »Teufelsweib!«
    »Das wird teuer«, fuhr Kalle Eberle an. »Und du bist schuld. Du hast gesagt, ich soll Gas geben.«
    Eberle grunzte nur.

19
     
    Lorenzo steuerte seinen Eiswagen in eines der alten Wohngebiete im Osten von Berlin. Er kam selten hierher, eigentlich nur, wenn er verschlafen hatte und seine Kollegen die besseren Plätze schon besetzt hielten. Dann machte er seine Tour durch die Gegenden, in die sonst niemand fuhr. Die Straßen waren einförmig und mit Schlaglöchern übersät. Rechts und links reihten sich ebenso einförmige Einfamilienhäuser aneinander. Manche waren vor Jahren frisch gestrichen worden, manche vor Jahrzehnten. Hierher verirrte sich nur, wer hier wohnte, jemanden besuchte oder die Post auslieferte.
    Lorenzo suchte einen Platz, wo er halten und seine Glocken läuten konnte. Vor einem bestimmten Haus hielt er nie. Es war noch grauer als die anderen, und die Vorhänge waren immer zugezogen, soweit man das durch die Hecke sehen konnte, die um dieses Haus höher wuchs als um die anderen. Dieses Haus wollte keinen Besuch, das spürte Lorenzo genau und fuhr ein bisschen schneller daran vorbei.
    Früher war dieses Haus das Heim einer kleinen Familie gewesen, heute wohnt der Sohn allein dort. Er isst kein Eis. Die Eltern sind vor Jahren gestorben. Die Nachbarn wissen von dem Mann nur, dass er keinen Lärm macht und den Bordstein regelmäßig fegt. Das reicht ihnen für gute Nachbarschaft. Mehr erwartet man nicht. Ob er arbeitet, weiß niemand, aber da er niemandem etwas schuldet, interessiert es auch keinen. Seinen Namen, Hajo Richter, haben auch die älteren Leute in der Straße längst vergessen. Der Name steht weder an der Klingel noch am Briefkasten, dessen Schlitz zugeklebt ist. Hajo Richter mag keine Werbung, und seine Post holt er irgendwo ab – falls er welche be- kommt, was niemand weiß.
    Hajo Richter ist Ende dreißig und mit seinen knapp ein Meter achtzig keine auffällige Erscheinung. Von seinem Körperbau her könnte er Sportler sein, aber er wirkt trotzdem schlaff. Seine Muskeln werden kaum beansprucht, da er das Haus nur gelegentlich zum Einkaufen verlässt und für bestimmte Erledigungen. Das volle dunkelblonde Haar würde sogar attraktiv wirken, wenn die Haut nicht so blass wäre. Sie hat die typische Farbe eines Menschen, der den ganzen Tag und halbe Nächte vor einem Computer-Monitor sitzt. Das hat mit seiner Arbeit zu tun, aber nicht nur damit. Die Mitarbeit in einer virtuellen Firma, für die er Computerspiele programmiert, ist nur der eine Grund, weshalb er viel Zeit an seinem leistungsstarken PC verbringt. Der andere Grund ist Ellen Faber.
    Hajo erlaubt sich eine Pause, gießt einen starken Kaffee ein und sieht sich zur Entspannung Aufnahmen an, wie Ellen nackt vor ihrem PC

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