Zehntausend Augen
er sich die Aufzeichnung von Ellens Gespräch mit dem Marketingleiter von Intelko an. Sein Plan ist aufgegangen – wie es seine Pläne eigentlich immer tun. Heute wird die Internetübertragung aus dem LKA funktionieren. Das wird ein äußerst spannender Tag.
Mit dem Bild von Ellen im Kopf, das ihm eine gute Inspiration für neue Ideen ist, geht er zur Rückwand seines Arbeitszimmers. Die ganze Wand ist mit einem filzartigen Teppichboden beklebt, eine riesige Pinnwand, um Unmengen Zettel und Ausdrucke anzuheften.
So macht er es immer, wenn er ein Adventure- oder ein Strategiespiel programmiert. Er sammelt Ideen auf Zetteln, heftet sie an und gruppiert sie so lange um, bis ein klarer Plan über den Ablauf des Spiels entsteht. In diesem Plan gibt es Äste und Verzweigungen, sodass am Ende ein ganzer Baum an der Wand hängt. Ein Entscheidungsbaum, in dem an allen kritischen Punkten alle Handlungsalternativen mit ihren Wahrscheinlichkeiten aufgeführt sind. Daneben hängen endlos lang Listen mit Hinweisen für die Leveldesigner.
Heute steht Hajo vor dem Ablaufplan eines besonderen Spiels – des Spiels mit Ellen Faber. Er nimmt den großen leuchtend roten Punkt, der das erreichte Level markiert, und heftet ihn einen Abschnitt weiter wieder an.
Die Liste mit den nächsten Schritten nimmt er an sich. Bevor er sich an die Arbeit macht, wirft er noch einen Blick auf die Wahlmöglichkeiten, die Ellen heute hat. Jeder Mensch ist frei, zu handeln, wie er will. Hajo lächelt. Natürlich ist jeder Mensch frei, aber wenn man jemanden gut kennt, weiß man, ob er zum Steak Bier oder Rotwein bestellt.
Hajo kennt Ellen sehr gut. Natürlich wird Ellen Widerstand leisten. Die ganze Berliner Polizei wird Widerstand leisten. Das ist wunderbar, denn sonst wäre das Spiel langweilig. Er geht alle Optionen durch und überprüft die Wahrscheinlichkeiten. Hinter jeder Option der Polizei steht, wie er in diesem Fall reagieren wird. Im Ernstfall ist für zeitraubende Überlegungen und Berechnungen kein Platz.
Auf dem Plan für heute stehen mehrere Ereignisse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell hintereinander folgen werden. Das verspricht prickelnde Spannung über viele Stunden. Ein Hochgenuss. Doch vorher steht eine Besprechung im LKA an. Hajo gedenkt, daran teilzunehmen. Virtuell natürlich. Und unbemerkt. Er setzt sich vor seinen Rechner und zieht das Headset auf. Die Verbindung ist gut.
20
Im LKA rief Ellen die Verkehrspolizei an und bat um die Aufnahmen aus der Radarfalle am Tempelhofer Damm.
Warum sollte sie nicht auch mal die Vorteile des Internets nutzen? Voller Vorfreude wartete Ellen auf die Bilder. Ihr blieb genug Zeit, um sich frisch zu machen. Die Aktion mit ihrem Rennrad hatte Ellen gehörig ins Schwitzen gebracht.
Gewöhnlich war sie ruckzuck fertig mit dem Duschen und Umkleiden. Abseifen, abtrocknen, in die bereitliegenden Dienstklamotten springen – das war's. Normalerweise musste Ellen nicht damit rechnen, dass sie jemand in Unterwäsche sah, heute würde es auf jeden Fall passieren. Sie nahm sich sogar etwas Zeit, um sich dezent zu schminken.
Ellen drehte sich mit dem neuen BH und Slip vor dem Spiegel hin und her. Sie hatte sich für das Paar in Schwarz mit Blau entschieden. Das passte hervorragend zu ihren Augen. Annika fand die Sachen vielleicht normal, aber Ellen hatte das Gefühl, dass sie fast nichts am Leib trug. Nur war die Alternative zu »fast nichts«: gar nichts. Und das kam nicht in Frage.
Ellen war in der Stimmung, den Tag offensiv anzugehen, wie Annika es ihr geraten hatte. Bei Eberle war ihr das bereits gelungen. Das war ein guter Start für den Tag gewesen. Beim Gedanken an Eberle beendete Ellen ihre Selbstinspektion. BH und Slip verschwanden unter der blauen Bluse und in der Hose. Jetzt sah sie aus wie immer. Irgendwie war das auch beruhigend.
Die Bilder der Radarfalle warteten bereits auf Ellens Rechner. Über den Schnappschuss von Kalle und Eberle musste Ellen herzhaft lachen. Die beiden sahen echt blöd aus. Der Blitz, der Ellen gegolten hatte, hatte die beiden überrascht. Der kurze Moment bis zu ihrem eigenen Radarfoto hatte gerade für ein dummes Gesicht gereicht – und das hatte der Starenkasten dann aufgenommen. Köstlich.
Ellen entfernte alle internen, polizeilichen Daten. Schon vor Längerem hatte sie sich ein privates E-Mail-Konto für die Fälle eingerichtet, bei denen sie keinen Hinweis auf den Absender hinterlassen wollte. In die Adresszeile tippte sie alle großen
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