Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
Vom Netzwerk:
Vater jemals um Rat gefragt zu haben. Eigentlich gab es niemanden, an den er sich hatte vertrauensvoll wenden können.
    Später war das Internet gekommen. Hier fand Hajo genau das, wonach er sich sehnte. Hier musste man keinen Namen nennen. Man konnte alles anonym erledigen. Vor allem gab es niemanden, der kritisch verfolgte, ob man einen Ratschlag annahm oder nicht. Äußerlich wohnte Hajo noch in dem Haus, innerlich zog er ins Netz um. Er lebte in Foren und Chat-Rooms. Für einige Zeit hatte er eine zweite Identität in Second Life. Im Netz fand er auch Trost und Zuspruch, als die Sache mit Ellen endgültig zu Ende ging.
    Wenn Hajo nicht im Internet surfte, spielte er Computerspiele. Er fuhr einen Sieg nach dem anderen ein, erst bei den einfachen, später auch bei den schwierigen Levels. Jedes siegreich beendete Spiel bekam einen Platz in einem speziellen Regal. Heu- te ist das Regal voll, die Spiele verstaubt, und Zuwachs hat es schon lange keinen mehr gegeben. Computerspiele bieten Hajo keinen Kick mehr. Spielen ist zu simpel.
    Er begann selbst zu programmieren – mit wachsendem Erfolg. Besonders stolz ist er darauf, dass er sich alles selbst beigebracht hat. Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, hatte er eine Weile lang Spiele programmiert. Hier konnte er seine ganze Spielerfahrung einbringen, aber das genügte ihm nicht. Er wollte perfekt sein. Der Beste.
    Um dieses Ziel zu erreichen, musste Hajo etwas tun, was ihm ganz und gar nicht behagte: Er musste unter Menschen. Ohne das Verhalten von Menschen zu kennen, konnte man keine anspruchsvollen Spiele programmieren, in denen es eben gerade darauf ankam, das Verhalten vorauszusehen und den Spielablauf entsprechend zu gestalten. Hajo hatte sogar einige Vorlesungen in Psychologie an der Uni besucht. Der Erfolg gab ihm recht. Er erhielt zahlreiche virtuelle Auszeichnungen. In einschlägigen Foren nannte man Hajo anerkennend »The Judge«.
    Leider verflüchtigte sich das Hochgefühl genauso schnell, wie die Auszeichnungen virtuell waren und die Foren anonym. All das Lob war nichts zum Anfassen. Was Hajo blieb, war das Geld, das er durch die Spiele verdiente und das ihn finanziell unabhängig machte. Zufrieden machte ihn das aber nicht.
    Das Internet ist grenzenlos, heißt es. Hajo hatte diesen Satz nicht nur einfach glauben wollen. Er hatte es wissen und erleben wollen. Seine ganze Energie und sein beträchtliches Know-how hatte er eingesetzt, um herauszufinden, ob es diese Grenzen tatsächlich nicht gab. Wenn jemand diese Grenzen finden konnte, dann er. Und er fand sie – schneller und unangenehmer, als ihm lieb war. Überall gab es Zutrittsbeschränkungen, Passwörter, Kopierschutz, Copyright-Bestimmungen. Seine Internetwelt war enger und beschränkter, als er gedacht hatte. Jedes Mal, wenn er an einen abgeschotteten Bereich stieß oder zu Bezahl-Inhalten gelenkt wurde, wuchs sein Ärger. Hajo wollte sich nicht ausschließen lassen. Er entwickelte Software zum Knacken von Passwörtern und stellte sie ins Internet. Dadurch machte er sich bei gewissen Stellen unbeliebt, besonders, als jemand seine Software benutzte, um in Privatrechner einzudringen, und die Bankverbindungen der Besitzer abfischte. Die Polizei begann mit ihrer Jagd auf ihn, worauf er den Spieß umdrehte. Er entwickelte eine Variante des Moorhuhn-Spiels, bei der man statt Moorhühnern Polizisten erlegen konnte. Nur virtuell natürlich. Die Strafanzeigen gegen ihn waren allerdings nicht virtuell.
    Und dann tauchte sie wieder auf. Ellen Faber. Aus heiterem Himmel. Da stand etwas über eine Ellen Faber in einem Zeitungsartikel, ohne Foto. Aber Hajo wusste, dass es sich nur um eine Ellen handeln konnte. Seine Ellen.
    »Die erste Frau als Leiterin der Sondereinsatzkommandos«, lautete die Überschrift. Das war den Medien tatsächlich eine Meldung wert, eine Frau in dieser Männerdomäne. Ellen hatte es geschafft. Sie war die Karriereleiter emporgeklettert und hatte mehr erreicht als alle anderen Frauen bei der Polizei vor ihr.
    Und so war sie wieder in sein Leben geplatzt, die starke Ellen, als Vertreterin der verhassten Polizei. Hajo sammelte Berge von Informationen über Ellen. Informationen aus den offenen wie auch den abgesperrten Domains des weltweiten Computernetzes. Pseudonyme oder Passwörter waren keine Hindernisse für ihn, sondern nur Herausforderungen. Bald wusste er Dinge über Ellen, die sie selbst längst vergessen hatte.
    Hajo setzt sich wieder an den Rechner. Zum wiederholten Mal hört

Weitere Kostenlose Bücher