Zehntausend Augen
sitzt oder in der Wohnung herumläuft. Er liebt ihren Anblick. Vielleicht sollte er ihn der ganzen Welt gönnen. Später vielleicht. Jetzt gehört ihm dieser Anblick ganz allein.
Ellen hat sich kaum verändert seit damals. Aus einer Schublade zieht Hajo eine alte Zeitung mit einem Foto auf der aufgeschlagenen Seite. Das vergilbte Foto zeigt den Abschlussjahrgang eines Gymnasiums – seinen Abschlussjahrgang. Wenn man genau hinsieht, erkennt man ihn selbst schräg hinter Ellen. Er ist einen Kopf größer als sie und lächelt. Es ist kein Zufall, dass er dort steht. Wenn Hajo jetzt die Augen schließt, kann er sich noch schwach an den Geruch von Ellens Haaren erinnern – das glaubt er wenigstens. Es ist das einzige Mal, dass er ihr so nahe gekommen ist. Er hat sich das ganz anders gewünscht, aber es ist ihm nie gelungen.
Ellen. Sie hatte nur Augen für die großen und starken Jungs. Groß war er wohl, aber nicht unbedingt stark und im Sport eine Niete. Während Ellen die Einsen für sich gebucht hatte, kämpfte er ständig um seine Vier. Sport war einfach nicht sein Ding. Rennen, kämpfen, sich anstrengen, verschwitzt sein, dem konnte er nichts abgewinnen. Es war aber auch nicht sein Ding, lockerzulassen. Seine große Stärke ist Geduld. Er kann auf seine Chance warten.
Von seiner größten Chance trägt Hajo noch heute eine kleine Narbe auf seiner linken Wange. Auf dem Nachhauseweg von der Schule hatten sich drei Jungs an Ellen rangemacht. Sie drängten immer dichter an sie heran und wurden unverschämt. Das konnte Hajo nicht zulassen. Er hatte versucht, Ellen zu schützen. Die Situation war dadurch nicht besser, sondern schlimmer geworden. Zwei der Jungs stürzten sich auf Hajo, während sich der Anführer um Ellen kümmerte. Die rastete aus und schlug wie eine Furie wild um sich. Mit ihrer Schultasche wirbelte sie in der Luft herum und traf auch Hajo, was sie aber gar nicht zu merken schien. Sobald sie Luft hatte, rannte sie davon. Jetzt musste er allein kämpfen. Mit einer blutenden Wange und einem halben Dutzend Prellungen war Hajo nach Hause geschlichen wie ein geprügelter Hund. Doch viel schlimmer als die Verletzungen war die Erkenntnis gewesen, dass er in Ellens Augen nur ein Nichts war. Es schien, als ob er gar nicht für sie existierte.
Auch jetzt, nach so vielen Jahren, ist sich Hajo nicht sicher, was ihn an Ellen so fasziniert. Auf jeden Fall ihre Stärke, aber da ist noch etwas, das ihn unwiderstehlich anzog. Er war jahrelang fest davon überzeugt gewesen, dass das Schicksal sie beide füreinander bestimmt hatte. So lange, bis das Schicksal sie endgültig trennte – besser gesagt, bis die Polizei ihm seine letzte Hoffnung raubte.
Ellen hatte sich in den Kopf gesetzt, um jeden Preis Polizistin zu werden. Ihre Größe war der einzige kritische Punkt, die Aufnahmeprüfung hatte sie mit Leichtigkeit bestanden. Auch Hajo hatte sich beworben, weniger wegen der Karriere als Polizist, sondern um in Ellens Nähe zu bleiben. Er glaubte immer noch an seine Chance. Im Nachhinein gesehen eine Dummheit, aber so war er nun mal Anfang zwanzig gewesen. Hajos Karriere bei der Polizei endete bei der Sportprüfung. Durchgefallen. Auch beim zweiten Versuch. Ellen bemerkte es nicht mal, dass sie Hajo nicht mehr »zufällig« traf, Hajo dafür umso schmerzhafter. Der wechselnde Schichtdienst bei der Polizei war für ihn unberechenbar. Dazu kam, dass Ellen fanatisch weiter an ihrer Karriere arbeitete. Sie besuchte jeden Lehrgang, der sich anbot. Für Hajo war bald klar gewesen: Die Polizei vermasselte ihm jede Chance, sein Glück zu finden.
Wenn er ehrlich ist, konnte er die Polizei noch nie leiden. Sie repräsentiert für ihn den Staat, und der steht für Steuern, Gesetze und Vorschriften, für alles, was sein Leben einschränkt. Seine ganze Kindheit war vollgepackt mit Regeln, aufgestellt von seinem Vater, einem überaus korrekten Vertreter der DDR. Er war streng gewesen und hatte nicht den geringsten Sinn für Humor besessen. Vielleicht hatte er deshalb im Rahmen dieses Staates Karriere gemacht.
In den wenigen Fällen, in denen Hajo bei seiner Mutter Zuflucht gesucht hatte, bekam er nur zu hören: »Dein Vater ist ein wichtiger Mann. Wir müssen tun, was er sagt.«
Inwiefern sein Vater wichtig war, erfuhr Hajo nie. Sein Vater verlor kein Wort über seine Arbeit, und seine Mutter schien auch nicht wirklich zu wissen, was er tat. Vertrauen war ein Fremdwort in seiner Familie. Hajo konnte sich nicht erinnern, seinen
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