Zehntausend Augen
Nachrichtenredaktionen in Berlin. In die Betreffzeile kam: »Ihre Kollegen auf der Jagd«. Mehr nicht. Den Rest erledigte die blühende Phantasie der Reporter. Man kannte sich schließlich in der Branche. Ellen lud das Bild von Kalle und Eberle hoch und drückte auf Senden.
Zur Einsatzbesprechung war das ganze Team schon anwesend, als Ellen in die Zentrale trat. An anderen Tagen kamen immer ein oder zwei zu spät, mal mit echten Entschuldigungen, mal mit vorgeschobenen. Heute schien es keinen wichtigeren Termin zu geben.
Alle wollten offenbar wissen, wie Ellen sich heute verhielt und präsentierte. Es ging den Leuten nicht nur um den Fall. Gegen ihren Willen war Ellen als Person in einer Art und Weise in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, das von den Fällen der Vergangenheit gänzlich verschieden war.
»Khalid, wie sieht es mit dem Internet aus?«, fragte sie, nachdem sie alle begrüßt hatte.
»Keine Probleme. Die Übertragung ist stabil.« Khalid machte trotz der positiven Nachricht keinen zufriedenen Eindruck. Er sah mehrmals auf seinen Computer, als ob irgendetwas nicht stimmen würde. »Wir haben achtunddreißigtausend Nutzer. Tendenz nur leicht steigend. Ich kann es mir nicht erklären.«
»Aber ich«, sagte Ellen.
Das Team sah erstaunt zu ihr hin. Von ihr hatten sie offenbar keine technischen Lösungen erwartet. Ellen sah auf ihr Handy und rief die letzte SMS auf. Becker hatte ihr versprochen, sie bezüglich der Nutzerzahlen auf dem Laufenden zu halten.
»In Wirklichkeit haben wir 1.847.000 Nutzer. Tendenz stark steigend.«
Die Zahl verschlug allen die Sprache. Stefan fand sie als Erster wieder. »Und die können uns jetzt alle sehen?«
Es war keine besonders intelligente Frage, aber Ellen wollte ihren Wissensvorsprung nicht gegen Stefan ausspielen.
»Davon sollten wir ausgehen. Wahrscheinlich sind es inzwischen schon deutlich mehr. Wir können nur die Anzahl der zugreifenden Rechner feststellen, aber nicht, wie viele Leute davorsitzen. Genauso wenig können wir feststellen, was das Fernsehen mit dem Signal macht und wie viele darüber zusehen.«
»Wer ist ›wir‹?«, bohrte Stefan nach. »Und wieso funktioniert das so plötzlich?«
Langsam werden die Fragen intelligent.
»Weil wir dieses Problem nicht mit eigenen Mitteln lösen können, habe ich externe Hilfe in Anspruch genommen.« Ellen wandte sich an Khalid. »Das war nicht gegen Sie gerichtet. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, aber mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten war das Problem nicht zu lösen.«
Khalid sah in die Runde. »Ich muss zugeben, dass mir nichts Hilfreiches mehr eingefallen ist. Ich bin froh, wenn ich dieses Problem los bin. Aber – wie funktioniert das denn jetzt?«
»Ich habe ein Angebot der Firma Intelko angenommen. Sie haben siebzigtausend Server im In- und Ausland und können mit Zugriffen in diesen Größenordnungen umgehen, wie wir sie hier haben.«
»Das darfst du doch gar nicht entscheiden.« Stefan stand mit verschränkten Armen und finsterer Miene da.
»Dir gefällt es wohl nicht, wenn etwas funktioniert«, sagte Ellen. Sie wusste aber auch, dass Stefan einen kritischen Punkt angesprochen hatte. »Es war niemand da, den ich hätte fragen können. Wenn ich sehe, dass etwas furchtbar schiefgeht, wenn ich mich nicht entscheide, ziehe ich mich nicht hinter eine Dienstordnung zurück.« Ellen sah ihn herausfordernd an.
Stefan brummte etwas Unverständliches. Er wusste offenbar zu genau, dass in diesem Moment jede Antwort falsch sein konnte. Er rettete sich, wie schon öfter, mit einem Themenwechsel. »Und nun halten wir diese Teambesprechung hier ab, wo uns alle Welt zusieht?«
»Exakt. Um dich zu beruhigen: Khalid hat mir versichert, dass nur ein Bild übertragen wird und kein Ton. Khalid?«
»Das kann ich garantieren.«
»Wir können also offen reden, ohne dass wir dadurch etwas verraten. Wir sollten allerdings heftige Diskussionen und Streit vermeiden, denn das erkennt man auch ohne Worte.« Betont blickte Ellen Stefan an. »Wir erfüllen also genau die Forderungen des Erpressers, ohne ihm dafür allzu viel zu geben.«
In einem abgelegenen Haus nickt Hajo Richter beifällig. Genau das hatte er gefordert – und bekommen. Mehr benötigte er nicht. Die Tonübertragung über das Handy reichte vollkommen aus. Glücklicherweise hatte Ellen sich angewöhnt, ihr Handy jeden Morgen mit einem vollen Akku zu füttern. Stefan Daudert war in dieser Hinsicht nachlässiger.
Eine
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