Zehntausend Augen
machen wir einen großen Ausflug«, berichtete Hanna.
»Ja, alle zusammen«, bekräftigte Elias. »Die ganze Schule.«
»Ist ja toll«, sagte Ellen. »Wo soll es denn hingehen?«
»Mit einem Schiff auf den Wannsee.«
»Wow! So was haben wir früher nicht gemacht. Das wird bestimmt super.«
Als das Essen kam, wurde es etwas ruhiger. Ellen erzählte Annika von der Begegnung mit Kronen, wobei Annika immer wieder darum bemüht war, die Kleckserei mit der Tomatensoße in erträglichen Grenzen zu halten.
Als Nachtisch spendierte Ellen Hanna und Elias ein Pinocchio-Eis mit einer langen Waffel als Nase. Damit waren Hanna und Elias so sehr beschäftigt, dass Annika und Ellen zum ersten Mal mehr als nur drei Sätze am Stück miteinander sprechen konnten.
»Was ist, wenn du noch mehr ausziehen sollst?«
»Das will ich nicht. Auf keinen Fall.«
»Das hast du vorher auch nicht gewollt, aber er hat dich trotzdem gezwungen.«
»Ich weiß. Deshalb werde ich alles tun, um den Erpresser vorher zu fassen.«
Ellen wusste, dass die Erfolgschancen mehr als vage waren – und Annika wusste das auch.
»Und wenn du das einfach nicht so eng siehst?«
»Ich will mich nicht von allen Leuten angaffen lassen. Wann und wo ich mich nackt ausziehe, ist meine Privatsache.« Als Frau bei den SEKs hatte sie reichlich anzügliche Bemerkungen gehört. Sie hatte wenig Lust, jetzt auch noch in der Öffentlichkeit als Sexobjekt betrachtet zu werden. Wenn Stefan den Einsatz leitete, müsste sich der bestimmt nicht ausziehen.
In diesem Moment näherten sich zwei Teenager dem Tisch. Sie tuschelten miteinander. Vor dem Tisch blieben sie stehen.
»Sind Sie Ellen Faber?«, fragte der größere der beiden.
Ellen sah überrascht auf. Sie kannte weder den einen noch den anderen.
»Ja, die bin ich.«
»Könnten wir vielleicht ein Autogramm von Ihnen haben?«
Ellen sah zu Annika und dann wieder zu den Teenies zurück. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Da holte der eine ein Heft heraus und hielt es Ellen vor die Nase. »Bitte schreiben Sie ›für Oliver‹.«
Ellen griff einfach nach dem Heft und dem Stift, den ihr der andere hinhielt. Das hätte sie nicht tun sollen. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein ganzer Pulk weiterer Teenager stürmte in das Lokal. Die beiden bei Ellen waren nur die Vorhut gewesen. In Sekundenschnelle drängelten sich gut ein Dutzend Jugendliche um den Tisch und schoben und riefen durcheinander und hielten Ellen Hefte, Ausdrucke aus dem Internet und ein Junge sogar eine Boxershorts hin. Ein Mädchen stand etwas abseits und filmte die Szene mit ihrem Handy.
Schließlich wusste Ellen sich nicht anders zu helfen und verließ fluchtartig das Lokal. Zu einem richtigen Abschied von Hanna und Elias reichte es nicht.
»Bist du jetzt berühmt?«, fragte Hanna noch in die Unruhe hinein. Ellen wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wollte nur raus. Auf der Straße begann sie zu laufen.
29
Kurz bevor sie ihr Büro erreichte, klingelte Ellens Handy. Es war Sina. Das war ungewöhnlich.
»Ellen?«, flüsterte Sina.
»Ja? Klar bin ich das, wenn du mich auf meinem Handy anrufst.«
»Das kann man nie wissen. Ich will dich warnen.«
»Warnen? Wovor warnen?«
»Ich muss vorsichtig sein.« Sina redete hastig und so leise, dass Ellen sie kaum verstand. »Kronen war hier und hat mir verboten, mit dir zu reden. Er lässt dich suchen.«
»Was redest du da? Warum verbietet Kronen dir, mit mir zu reden?«
»Ich … Scheiße, ich muss Schluss machen.« Ein Knacksen signalisierte, dass die Verbindung unterbrochen war.
Ellen starrte ihr Handy an. Was sollte das denn? Klar, Kronen war im Moment nicht gut auf sie zu sprechen, aber das war kein Grund, dass er Sina den Kontakt zu ihr verbot. Es musste etwas Größeres sein, nur was?
Mit einem unguten Gefühl ging Ellen zu ihrem Büro. Als Erstes sah Ellen Direktor Brahe. Er stand steif am Fenster. Seine Schultern hingen herab. Kronen war auch da. Er saß hinter Ellens Schreibtisch und wühlte in der obersten Schublade.
»Was soll das, wenn ich fragen darf?«
Kronen sah Ellen scharf an. »Das werden Sie bald erfahren. Direktor Brahe, bringen Sie Kommissarin Faber in den Vernehmungsraum. Anschließend soll sich die KTU dieses Büro vornehmen – aber nicht Frau Ahuus. Ich möchte, dass jemand anderes das macht.«
»Ich will wissen, was hier los ist!« Ellen rührte sich nicht vom Fleck.
»Sie können sich später beschweren. Ich bin noch nicht fertig.«
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