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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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etwas finde. Jeder Mensch hinterlässt Spuren, ob er will oder nicht: Alle paar Minuten fällt ein Haar aus, oder er verliert eine Hautschuppe oder ein Speicheltröpfchen. Ich verspreche dir, ich finde etwas.«
    »Wenn du meinst. Ich hätte nichts dagegen.«
    »Ja, das meine ich. Und deshalb muss ich jetzt los. Lass dich von einem Streifenwagen nach Hause bringen. Dein Fahrrad habe ich schon weggeschlossen.«
    Jetzt, wo sie mit dem Kampf gegen den Sandsack aufgehört hatte, schlug die Müdigkeit zu. Ellen gab dem Sack einen letzten Tritt zum Abschied. Der hatte genug für heute abbekommen. Zwanzig Minuten Laufband wären noch gut.

27
     
    Ein klirrendes Geräusch ließ Ellen aus dem Schlaf aufschrecken. Mitten in der Bewegung verharrte sie. Alle Knochen taten ihr weh. Die eine Hälfte wegen ihrer Schlägerei mit dem Sandsack, die andere Hälfte, weil sie die Nacht in ihrem Sessel verbracht hatte.
    Mühsam stand Ellen auf. Jetzt sah sie auch den Grund für das Klirren. Ein Glas lag in Scherben auf dem Fußboden. Der große rote Fleck auf dem Teppichboden zeugte davon, dass noch jede Menge Rotwein in dem Glas gewesen war. Ellen konnte sich nicht erinnern, überhaupt einen Schluck getrunken zu haben. Wahrscheinlich hatte sie sich das Glas eingegossen, hatte sich in den Sessel gesetzt und war sofort eingeschlafen.
    »So ein Ärger«, murmelte Ellen.
    Den Fleck wegzubekommen, würde nicht einfach werden, und wenn er eingetrocknet war, erst recht nicht. Aber jetzt hatte sie beim besten Willen keine Zeit für solche Sachen.
    Im Büro fuhr Ellen ihren Computer hoch, um die aufgelaufenen E-Mails und Vorabinformationen der KTU durchzugehen. Bevor sie mit Lesen beginnen konnte, wurde sie schon ins Büro zu Direktor Brahe gerufen.
    So früh?
    Das war ungewöhnlich, zumal sich Brahe in der Nacht persönlich um die Sicherung der Bombe in der Disco gekümmert hatte. Ellen wischte sich die letzten Krümel des Schokocroissants ab, das sie sich in aller Eile als Frühstückersatz geholt hatte, und ging zum Büro ihres Chefs.
    Direktor Brahe sah blass aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.
    Was Brahe an Müdigkeit ausstrahlte, strahlte Polizeipräsident Kronen an Energie aus. Negativer Energie. Er bedachte Ellen mit einem aggressiven Blick. So früh hatte Ellen ihn noch nie im LKA gesehen – und so wütend auch noch nie. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
    »Guten Morgen, Frau Faber«, sagte Brahe.
    Kronen ließ Ellen keine Zeit, den Gruß zu erwidern. »Wissen Sie, warum ich hier bin?«, fuhr er sie an.
    Das war nicht schwer zu erraten. »Wegen unserem aktuellen Erpressungsfall, nehme ich an.«
    »›Fall‹ nennen Sie das?« Kronens Gesichtsfarbe wurde eine Nuance roter. »Wissen Sie, woran ich denke, wenn ich ›Fall‹ höre? Ich denke an routinierte Polizeiarbeit. Was Sie ›Fall‹ nennen, nenne ich eine Katastrophe. So etwas wie jetzt habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Die ganze Stadt steht Kopf. Millionen von Menschen haben Angst. Millionen! Ist Ihnen das bewusst?«
    »Ja, das ist mir bewusst.«
    »Haben Sie eine Ahnung, was gestern in der Stadt los war?«
    Ellen hätte anmerken können, dass es im LKA auch nicht gemütlich gewesen war. Doch das führte zu nichts – und Kronen ließ ihr sowieso keine Zeit für eine Antwort.
    »Tausende Menschen sind gestern in Panik aus den Kinos gestürmt. In der ganzen Stadt. Für die Presse ist es ein Kinderspiel, Hunderte von Menschen zu finden, die ihre Angst über alle Kanäle ausposaunen. Die ganze Welt fragt sich, was Berlin für eine Stadt ist.« Kronen lief erregt von einer Seite des Büros zur anderen.
    Ellen sagte nichts.
    »Bei all dem steht mir der Innensenator auf den Füßen. Und seit gestern Abend noch viel mehr. Wissen Sie eigentlich, wo der Innensenator gestern seinen Abend verbracht hat?«
    »Nein.« Aber so, wie Kronen sich anstellte, keimte ein Verdacht in Ellen auf.
    »In der Deutschen Oper. Mit seiner Frau.«
    Da war der Innensenator zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. »Ich habe ihn bei der Internetübertragung gar nicht erkannt«, sagte Ellen vorsichtig.
    Kronen starrte sie einen Moment lang an, als käme sie vom Mars. »Sie würden ihn auch jetzt nicht erkennen«, sagte er gefährlich ruhig. »Er ist in einen Streit geraten und hat ein blaues Auge davongetragen. Ich habe es selbst gesehen.«
    Ellen hatte Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Bei aller Dramatik hatte die Vorstellung, dass der Innensenator sich in der Oper prügelte,

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