Zehntausend Augen
wie man mit Ihnen umgeht, wie man Sie auseinandernimmt und Sie bloßstellt – und wie es manchen noch Spaß macht, Ihnen dabei zuzusehen.«
Ellen nippte an ihrer Tasse. »Ich habe mich dafür entschieden, diesen Weg zu gehen – auch mit dem Risiko, dass er nicht funktioniert. Jetzt geht es eben schief, und ich muss bezahlen. Wir sind dem Erpresser keinen Millimeter näher gekommen und haben nichts erreicht.«
»Ich sehe das anders. Sie haben unzähligen Menschen das Leben gerettet. Sie haben in diesen wenigen Tagen mehr erreicht, als die meisten Polizisten in einem ganzen Leben erreichen. Das kann man nicht als Schiefgehen bezeichnen.«
»Das ist nicht genug. Wir müssen diesen Verbrecher fassen.«
»Das liegt nicht an Ihnen. Sie haben mehr gegeben, als die meisten tun würden. Wollen Sie sich wirklich noch weiter von ihm herausfordern lassen?«
»Habe ich denn eine andere Wahl?«
»Sie sind ein freier Mensch – und deshalb haben Sie die Wahl. Niemand kann Sie zwingen, sich vor laufenden Kameras auszuziehen. Das gehört nicht zu Ihrer Job-Beschreibung.«
Ellen stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und hielt die warme Tasse mit beiden Händen fest. Sie sah einen Moment zu, wie sich der Schaum auf dem Kaffee bewegte. Dabei dachte sie wieder an Hanna und Elias. In Gedanken sah sie das Schiff vor sich, wie es sich durch die Bombe in einen Feuerball verwandelte. So etwas durfte nicht passieren. »Als Kommissarin mit Verantwortungsbewusstsein kann ich nicht anders als weitermachen.«
Marina Wirtz beugte sich vor, nahe zu Ellen hin. »Sie haben keine Chance. Der Erpresser ist Ihnen immer einen Schritt voraus. Er will sie überhaupt nicht gewinnen lassen.«
»Das weiß ich, aber ich gebe nicht auf. Niemals. Und irgendwann werde ich diesen Kerl kriegen.«
»Wenn das Ihre Entscheidung ist, dann müssen Sie diesen Weg gehen, aber einen Rat sollten Sie annehmen. Gehen Sie heute nicht mehr ins LKA und schlafen Sie nicht zu Hause.«
»Warum das?«
»Ich möchte vermeiden, dass Sie in endlosen Diskussionen mit Kronen und Daudert Ihre Kräfte verbrennen. Und bei Ihrer Wohnung warten nur die Paparazzi auf Sie. Das Spießrutenlaufen mit der Presse können Sie sich sparen. An Ihrer Stelle würde ich auch morgen keine Zeitung lesen.«
Ellen dachte an den aufdringlichen Eberle. Aber die anderen waren nicht besser. Die Reporter schienen sich grenzenlos zu vermehren und standen anscheinend überall, wo sie sich eine kleine Chance auf ein Bild oder Wort von ihr erhofften. »Nein, danke. Das brauche ich tatsächlich nicht.« Ellen überlegte einen Moment. »Ich könnte bei meiner Schwester schlafen. Das würde mir guttun.«
»Ich bringe Sie gerne hin.«
»Vorher muss ich aber mit Direktor Brahe sprechen. Er muss etwas wissen.« Ellen wollte seine Nummer wählen, aber der Akku ihres Handys war mal wieder leer. Marina Wirtz reichte Ellen ihr Handy.
»Direktor Brahe? Das Foto mit dem Tiger-Tattoo. Es ist in meinem letzten Urlaub aufgenommen worden, aber nicht von mir. Das kann nur ein Mann gemacht haben, der sich Pablo genannt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, was er mit der Erpressung zu tun haben sollte, aber ich möchte Sie bitten, dieser Spur nachzugehen. Wir brauchen die Gästeliste des Hotels.« Ellen gab Brahe den Namen des Hotels und die Zeit durch.
Ellen gab Marina Wirtz das Handy zurück. »Danke.«
»Keine Ursache. Übrigens – wenn Sie nichts dagegen haben – nennen Sie mich Marina. Wir können uns gerne duzen. Es ist mir eine Ehre, mit so einer Kollegin zusammenzuarbeiten.«
Ellen musste schmunzeln. Das hörte sich jetzt wirklich nicht mehr professionell distanziert an.
Im Treppenhaus von Annikas Haus kamen Ellen die Kinder schon entgegengestürmt.
»Ellen, Ellen, du glaubst nicht, was uns passiert ist. Wir haben ganz viel Polizei gesehen.«
Bis alle oben an der Wohnung angekommen waren, kam Ellen nicht zu Wort. Die beiden redeten ununterbrochen und vor allem gleichzeitig. Ellen hätte auch kein Wort über die Lippen gebracht.
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, nahm Ellen Hanna und Elias in ihre Arme.
Elias bemerkte eine Träne, die an Ellens Wange herunterlief. »Warum weinst du?«, fragte er.
»Weil ich mich so freue, euch zu sehen.«
Elias legte den Kopf schief. Dann sagte er: »Komisch. Wir lachen immer, wenn wir uns freuen.«
»Ja«, sagte Ellen. »Tut das. Lacht, so viel ihr könnt.«
Sie stand aus der Hocke auf und nahm Annika, die still dagestanden und die Szene beobachtet hatte,
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