Zehntausend Fallen (German Edition)
fünf Minuten Zeit, um die Umgebung nach Verdächtigem abzusuchen, bevor sie durch den Eingang trat und die schmale Treppe zu dem Café hinunterging. Sie rechnete nicht damit, verfolgt worden zu sein, aber man konnte nie sicher sein. Ein Keller konnte zu einer Falle ohne Ausgang werden.
Der Gastraum war schnell überblickt. Es hatte sich nichts verändert seit ihrem letzten Besuch vor etwa einem Jahr. Dieselben Bilder vom Spreewald an der Wand und immer noch sechs Tische, die dieses Mal allerdings alle besetzt waren. Ein leises Raunen von gedämpften Gesprächen lag in der Luft. Marina saß sogar am gleichen Tisch wie damals, aber sie hatte eine neue Brille, eine, die weniger streng wirkte. Ihre mittelblonden Haare trug sie jetzt schulterlang. Als Marina Ellen entdeckte, winkte sie.
Auf dem kurzen Weg zu Marinas Tisch warf Ellen nochmals einen kritischen Blick über die Anwesenden. Niemand kam ihr bekannt vor.
»Hier kommen keine Kollegen hin«, sagte Marina, der Ellens Blick offenbar nicht entgangen war. Dafür war sie eine zu gute Beobachterin.
»Sicher ist sicher«, sagte Ellen. »Entschuldige die Verspätung. Ich musste einen Umweg laufen, am Spittelmarkt gab es Randale.«
»Bist du etwa gelaufen?« Marina sah Ellen ungläubig an.
Die zuckte mit den Schultern. »Ist nicht so tragisch. Ist gut für die Gesundheit.«
»Und gut für die Freiheit«, ergänzte Marina. »Meine Güte. Als wir das letzte Mal hier saßen, hast du die härteste Truppe im lka geleitet, und jetzt musst du dich vor jedem Streifenpolizisten verstecken.«
Ellen machte ein Zeichen, dass Marina schweigen sollte. Die Bedienung kam heran. Marina bestellte einen Cappuccino.
»Haben Sie auch etwas zu essen?«, fragte Ellen. »Etwas Deftiges?«
»Wenn Ihnen Buletten deftig genug sind, haben wir etwas für Sie.«
»Buletten sind gut. Und scharfen Senf und eine große Cola.«
»Auf deine Figur musst du wohl nicht achten«, meinte Marina.
»Im Moment verbrenne ich ziemlich viele Kalorien.«
»Erzähl mal, wie es dir geht.«
Ellen gab Marina einen Abriss der Ereignisse. Sie fasste sich kurz, aber es dauerte doch so lange, dass sie zwischendrin noch mal eine Portion Buletten verdrückte.
Marina hörte zu, ohne Ellen zu unterbrechen. »Klingt nicht gut«, sagte sie, als Ellen fertig war.
»Zu diesem Ergebnis bin ich auch schon gekommen.«
»Wenn ich mir die Situation im lka ansehe, ist es noch schlimmer, als du denkst. Stefan Daudert lässt kein gutes Haar an dir. Seit du auf der Fahndungsliste stehst, hat er dich zur Chefsache erklärt. Er muss einen richtigen Hass auf dich haben.«
»Mich wundert, dass er überhaupt befördert worden ist. Er hat großen Mist gebaut, nicht ich. Er hat in der Kammer des Schreckens Beweise beiseitegeschafft und sich dabei filmen lassen.«
»Aber er ist befördert worden, warum auch immer. Und jetzt dreht er die Sache so, dass du ihn in diese Falle geschickt hättest.«
»So ein Schwein. Er weiß genau, dass das gelogen ist.«
Ellen war laut geworden, und einige Gäste sahen zu ihnen herüber. Marina bestellte zwei Cappuccino, um abzulenken. Bis die Cappuccinos kamen, schwieg Ellen. Sie musste verdauen, was sie gerade von Marina gehört hatte.
»Okay«, sagte Ellen, als die Tassen vor ihnen auf dem Tisch standen und die Bedienung wieder gegangen war. »Wir müssen die Fakten so nehmen, wie sie sind, auch wenn sie uns nicht gefallen. Das macht es umso dringender, dass bald etwas geschieht. Vonseiten der Polizei ist keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil. Selbst du und Sina können in dieser Lage nichts bewegen.«
Ellen streute Zucker auf den Milchschaum und rührte ihn vorsichtig hinein.
Marina beobachtete Ellen dabei. »Du siehst nicht so aus, als würdest du weglaufen wollen, wie es die meisten wohl tun würden.«
»Weglaufen bringt nichts. Man muss sich den Problemen stellen.«
»Das ist eigentlich mein Satz, den ich immer wieder sage«, bemerkte Marina. »Aber in deinem Fall hätte ich fürs Weglaufen Verständnis.« Marina dachte einen Moment nach, während Ellen weiter in ihrem Cappuccino rührte. »Es sei denn, du hast tatsächlich noch einen Plan.«
Jetzt ließ Ellen ihren Cappuccino in Ruhe und sah Marina an. »Einen Plan noch nicht, eher eine Idee. Eine ziemlich verrückte Idee. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich so etwas überhaupt denke.«
17
Wenn das Licht der Straßenlaternen nicht gewesen wäre, hätte Ellen das Morgengrauen sehen können, das im Osten aufzog. Ellen hatte darauf
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