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Zehntausend Fallen (German Edition)

Zehntausend Fallen (German Edition)

Titel: Zehntausend Fallen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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würden. Ellen sah zu den Nazis. Da war alles unverändert ruhig. Jetzt dort einzugreifen, wäre ein Fehler, den kein vernünftiger Kommandant begehen würde. Dann sah Ellen, wie zwei Beamte verstohlen in ihre Richtung blickten.
    Sie meinen mich! Diese Erkenntnis kam wie ein Blitz – und tat fast genauso weh. Jemand hatte sie erkannt. Eigentlich war das kaum verwunderlich, denn in solchen kritischen Situationen war es Pflicht, auch die Umgebung im Auge zu behalten.
    Ellen wollte sich reflexartig umdrehen und weglaufen, bremste sich aber noch rechtzeitig. Wie beiläufig sah sie sich um und tat so, als hätte sie nichts bemerkt, und das war ihr Glück. Hinter ihr gab es an mehreren Stellen Bewegung unter den Leuten, als ob sich jemand durch die Menge vorarbeitete.
    Man hat mich in der Zange.
    Entweder hatte man sie so frühzeitig entdeckt, dass man Beamte losgeschickt hatte, bevor Ellen Verdacht geschöpft hatte, oder es waren von Anfang an Zivilbeamte in der Menge verteilt gewesen.
    Ellen ging blitzschnell ihre Optionen durch. Es blieben nicht viele. Eigentlich blieb nur eine, und das war die, die ihr im Grunde absolut widerstrebte. Aber wenn sie nicht festgenommen werden wollte, hatte sie nur diese eine Wahl.
    Ellen spurtete über die Straße auf die Neonazis zu. Nur zwei Sekunden später rannten auch die Polizisten los. Ellen war schneller. Schon war sie bei den Neonazis angekommen.
    »Die Bullen verfolgen mich«, rief Ellen und zwängte sich an den ersten vorbei. Die kapierten überhaupt nicht, was plötzlich los war, aber die auf sie zustürmenden Polizisten reichten aus. Sofort flogen Bierbecher und anderes. Fäuste krachten auf Helme, Ellen hörte Pfefferspray zischen. Dann war sie durch die Menge durch, sah einen Hofeingang und verschwand darin.
    Ellen fand einen anderen Ausgang und lief weiter, bis sie sicher sein konnte, dass ihr niemand folgte. Ihre Kollegen taten Ellen leid und in diesem Fall sogar die Neonazis. Sie allein hatte die Eskalation provoziert und niemand anderes. Ellen beruhigte ihr Gewissen damit, dass es in gewisser Hinsicht Notwehr gewesen war, und für die aggressive Aufstellung der beiden Parteien konnte sie nichts.
    Eins war seit dieser Situation klar: Die Polizei wusste, dass sie in Berlin war. Alle falschen Spuren, die sie gelegt hatte, waren ab jetzt wirkungslos. Man wusste, wo man sie zu suchen hatte, und das bedeutete wiederum, dass ihre Zeit in Freiheit ablief. Hatte sie noch Tage? Oder nur noch Stunden? Das hing von vielen Faktoren ab und vom Glück, aber das war nichts, auf das sich Ellen verlassen wollte.
    In leichtem Trab a rbeitete Ellen sich nach Berlin-Mitte vor, wobei sie die großen Straßen vermied. Immer wieder kam sie an zugenagelten Schaufenstern vorbei. Nach längerer Suche fand sie eine Telefonzelle. In Zeiten, in denen fast jeder ein Handy hatte, waren sie selten geworden. Diese hier sah aus, als hätte man sie vergessen. Die Scheiben waren so zerkratzt und verschmiert, dass Ellen nicht hineinsehen konnte, was anderseits den Vorteil hatte, dass Ellen darin einigermaßen sicher vor Entdeckung war. Entscheidend war, dass das Telefon überhaupt noch funktionierte. Tatsächlich ertönte das Freizeichen, als Ellen den Hörer abnahm. Ein Telefonbuch gab es natürlich nicht, aber das war auch nicht nötig. Ellen hatte die Nummer im Kopf.
    Sie hatte lange überlegt, ob sie es wagen konnte, Marina Wirtz anzurufen. Marina arbeitete auch im lka , sie leitete den psychologischen Dienst, aber es war kaum anzunehmen, dass man Marinas Telefon überwachte, um Ellen auf die Spur zu kommen. Zu Ellens Zeiten im lka war es ein offenes Geheimnis, dass Ellen und Marina sich nicht leiden konnten. Dafür waren sie zu verschieden. Dass sich dieses Verhältnis am Ende ins Gegenteil verwandelt hatte, hatte kaum jemand mitbekommen.
    »Ellen , du?« Marina klang erstaunt. »Wie geht es dir? Alle Welt sucht dich.«
    »Das habe ich vor Kurzem auch bemerkt. Wir müssen reden, aber nicht am Telefon. Traust du dich?«
    »Was ist denn das für eine Frage?«
    »Wenn herauskommt, dass du dich mit mir triffst, kriegst du Schwierigkeiten.«
    »Mit wem ich mich treffe, entscheide ich ganz alleine, und das geht auch niemanden etwas an.«
    »Danke. In unserem Kellercafé?«
    »Gut, ich kann in zwanzig Minuten da sein.«
    Ellen überschlug die Entfernung. Öffentliche Verkehrsmittel und Taxen fielen aus. Zu gefährlich. Sie musste wohl oder übel laufen. »Ich brauche etwa eine Stunde.«

16
    Ellen nahm sich

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