Zehntausend Fallen (German Edition)
sich jemanden vorstellt, der Tag und Nacht vor seinem Computer hockt. Ellen spürte, wie sich seine Körperspannung veränderte. Der Schock ließ nach. Dass sich so etwas wie eben wiederholen ließ, bezweifelte sie. Sie musste die Situation nutzen, das Eisen schmieden, solange es noch etwas geschockt war. Ellen konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor gesehen zu haben, aber irgendeine Verbindung zwischen ihm und ihr musste es geben. An einen Stalker, der sich eine Liebe einbildete, glaubte Ellen nicht. Das passierte nur Stars. Bevor er sie vor die Kameras gelockt hatte, war sie in der Öffentlichkeit nicht präsent gewesen. Für Verantwortungsträger im aktiven Polizeidienst war das besser so. Es musste also etwas geben, was sie nicht wusste.
»Woher kennst du mich?«
Es schien zunächst, als hätte Hajo die Frage nicht gehört, aber dann sagte er: »Im Handschuhfach.«
Ellen öffnete die Klappe. Zuoberst lag ein Zeitungsausschnitt, dem man das Alter deutlich ansah. Das einzige Bild zeigte eine Gruppe junger Leute, die sich extra für das Foto aufgestellt hatten. Erst durch den Beitext wurde Ellen klar, dass es sich um den Abschlussjahrgang einer Schule handelte, ihrer Schule und ihrem Jahrgang. Nach genauerem Hinsehen fand sie sich in der ersten Reihe als Dritte von rechts. Das konnte nur eins bedeuten.
»Und wer bist du?«
»Links hinter dir.«
Es hätte jeder andere sein können. Ellen erkannte Hajo nicht wieder. »Ich kann mich nicht an dich erinnern.«
»Das wundert mich nicht. Für dich war ich ein Nichts. Du hast dich immer nur für die großen Jungs interessiert.«
Ellen strengte ihr Gedächtnis an. Zu Hajo gab es keinen Eintrag.
»Ich habe mich sogar mal für dich geprügelt«, ergänzte Hajo.
»Ich habe mich immer selbst verteidigt.«
Hajo nahm die Hände vom Lenkrad. Er taute zusehends auf. »Ja, du warst immer die Starke.« Jetzt lachte er sogar leise. »Bis ich dir gezeigt habe, wie schwach du sein kannst. Das hat niemand geschafft, außer mir.«
»Und deshalb die ganzen Bombendrohungen? Um es mir zu zeigen?«
Hajo machte eine abwehrende Handbewegung. »Quatsch. Ich wollte die Polizei herausfordern. Es gibt da so einiges, was ich nicht leiden kann. Ziemlich viel sogar. Du warst nur das Sahnehäubchen.«
Ellen hätte gerne gewusst, was hinter diesem »ziemlich viel« an Konkretem stand, aber das musste sie auf später verschieben. Sie hatte ihn noch nicht als Helfer gewonnen.
»Du wusstest, dass ich dich jagen wollte. Hattest du keine Sorge, dass meine Kontaktaufnahme eine Falle war?«
Hajo sah Ellen an, tief und durchdringend. »Du hast wirklich keine Ahnung von der Welt des Internets. Sie ist nicht sichtbar, aber genauso real wie du und ich. Dass du deinen Dienst quittiert hast, wusste ich natürlich, aber was mich überzeugt hat, waren deine Feinde. Dein Rechner war regelrecht umstellt. Es hätte nur noch Stunden gedauert, bis sie deine Abwehr geknackt hätten, und dann wärst du geliefert gewesen.«
Ellen wurde nachträglich noch unwohl. Dass es so knapp gewesen war, hatte sie nicht geahnt.
»Das war nichts von hier, kein Bundestrojaner oder so was. Das war etwas Richtiges. Du hast dir mächtige Feinde ausgesucht, das muss ich dir lassen. So was macht man nicht als Falle. Dieser Hasels ist ein extrem gefährlicher Bursche.«
Ellen war alarmiert. Hajo wusste schon viel mehr, als sie ahnte. Er hatte in dem Lokal nicht übertrieben.
»Was weißt du von Hasels?«
Hajo lachte wieder. »Willst du seine Adresse?«
Ellen war perplex. Was wusste Hajo noch? »Natürlich will ich die.«
Jetzt grinste Hajo frech. »Nichts ohne einen Preis. Diese Regel kennst du doch.«
»Ich werde mich nie wieder vor dir ausziehen. Das habe ich schon mal gesagt.«
Das Grinsen wurde breiter. »Wenn ich es wollte, würde ich dich dazu bringen.«
Ellens Puls beschleunigte. Die Zeit des Friedens war vorbei. Hajos Schock war ganz offensichtlich verflogen. Jetzt bekam er wieder Oberwasser oder glaubte es zumindest.
»Ja, ich brauche deine Unterstützung, aber ich werde niemals deine Marionette sein. Eher versuche ich es alleine.«
»Stolz wie eh und je. Aber wenn du jetzt gehst, verspreche ich dir, dass du den morgigen Abend nicht mehr in Freiheit erleben wirst.«
»Ist das schon wieder eine Erpressung?«
»Nur eine logische Schlussfolgerung.« Hajo deutete auf Ellens kleine Handtasche. »Wenn ich richtig vermute, ist das alles, was du noch besitzt. Das ist nicht viel gegenüber denjenigen, die dich
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