Zehntausend Fallen (German Edition)
zurück, ohne telefoniert zu haben. Alexej verfolgte aufmerksam jede seiner Bewegungen. Ansonsten stand er nur da und sagte kein Wort. Auch wenn Veritatis ihn etwas fragte, sagte Alexej nichts, also ließ Veritatis es bleiben.
Veritatis fühlte sich unwohl. Er war gewohnt, sich zurückziehen zu können, wann immer er wollte, und das wollte er oft. Er liebte seine Ruhe. Wenn er an die Zeit zurückdachte, in der er ganz allein komplexe Experimente durchgeführt hatte, oft nächtelang, dann wurde er wehmütig. Das war als Leiter eines Instituts nicht mehr möglich, aber immerhin konnte er sich seine Zeit frei einteilen.
Und jetzt stand dieser Wachhund neben ihm in seinem eigenen Büro. Ein stummes, aber lebendes Zeichen, dass er doch nicht so frei war, wie er immer gedacht hatte. Alexej hatte recht gehabt bei dem einzigen, kurzen Gespräch im Auto. Wer Geld gab, hatte etwas zu sagen, und Hasels Firma gab viel Geld. Hasels, er war der Einzige, der ihn von diesem Wachhund befreien konnte, aber jedes Mal, wenn Veritatis dachte, er hätte ein Argument, mit dem er Hasels überzeugen könnte, verwarf er es wieder, bevor er Hasels' Nummer gewählt hatte.
Veritatis sah unschlüssig vor sich auf die Schreibunterlage. Links daneben lag ein Stapel Dokumente, Ergebnisse von Versuchsreihen, ein Angebot für eine Ausschreibung der eu -Kommission, zwei Einladungen zu Vorträgen auf Kongressen. Es gab Arbeit genug, aber Veritatis konnte sich nicht konzentrieren. Er dachte ständig an die Frau von gestern Abend. Hasels hielt sie für höchst gefährlich, was sie zweifellos war. Sie hatte ihn hereingelegt und mächtig unter Druck gesetzt. Wenn Hasels nicht aufgetaucht wäre, hätte er sein Institut verraten. Hasels musste eine Menge Respekt vor ihr haben, wenn er persönlich und mit so vielen Leuten aufkreuzte, um sie zu fassen. Und dann hatte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Veritatis hatte Hasels noch nie so wütend erlebt. Die Erinnerung, wie Hasels ihn später zusammengestaucht hatte, ließ die Übelkeit wieder hochkommen, mit der er gestern ins Bett gegangen war. Hasels hatte ihm härteste Konsequenzen angedroht, für sein Institut und zur Not auch noch für ihn ganz persönlich, was auch immer das heißen mochte. Eigentlich war ziemlich klar, dass Hasels sich niemals dazu bewegen lassen würde, diesen russischen Gorilla abzuziehen.
Veritatis nahm sich seine E -Mails vor. Mehr, als den Müll auszusortieren, brachte er nicht zustande. Die kurze Melodie, die sein Handy abspielte, war eine willkommene Abwechslung. Alexej straffte sich sofort und sah es kritisch an, aber er rührte sich nicht. Es war nur eine sms , eine private, wusste Veritatis. Geschäftliche Nachrichten erzeugten keine Melodien. Eine private sms war überraschend. Veritatis erwartete keine Nachricht, und eine Beziehung hatte er zu seinem Leidwesen im Moment auch nicht.
Michelle , las Veritatis auf dem Display. Er erinnerte sich. Sie hatten sich ein paarmal getroffen. Das letzte Mal war ungefähr sechs Wochen her, danach war Michelle einfach verschwunden. Neugierig öffnete Veritatis die Nachricht.
Ich vermisse dich, Ja nni. Können wir uns treffen? 13 Uhr Bar Airporthotel. Ich kann es kaum erwarten, dich zu spüren ... Michelle
Das war typisch Michelle. Sie fragte nicht, ob er konnte oder wollte. Das setzte sie ganz selbstverständlich voraus. Für einen Moment war Alexej vergessen. Veritatis ' Herz begann, schneller zu schlagen. Michelle, feurige Augen und ein genauso feuriges Temperament. Eine Figur mit Rundungen genau an den richtigen Stellen – und rothaarig! Eine wilde Mähne, die das Feurige perfekt unterstrich. Ja, es lohnte sich, dafür sogar den einen oder anderen Geschäftstermin zu verschieben. Veritatis spürte, wie es in seinem Schritt kribbelte – und dann räusperte sich Alexej. Der Russe musterte Veritatis kritisch, sagte aber kein Wort. Das Kribbeln in Veritatis' Schritt verschwand schlagartig. Die gerade aufgeflammte Hoffnung auf ein heißes Date erlosch. Niedergeschlagenheit machte sich breit. Hasels würde niemals ein Date zulassen, und Alexej, dieser Affe, würde dieses Verbot gnadenlos durchsetzen. So tief war er gesunken, dass er sich Dates verbieten lassen musste. Veritatis stand auf und ging zur Tür.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Alexej, noch bevor Veritatis die Klinke in der Hand hatte.
»Zur Toilette. Das werde ich wohl noch dürfen.«
Alexej machte eine seitliche Bewegung mit dem Kopf. Als Veritatis ging, folgte er ihm
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