Zehntausend Fallen (German Edition)
als in der Nacht.
Ellen ging einen halben Schritt auf den Balkon. Von hier aus sah er noch baufälliger aus. Wahrscheinlich würde er sie tragen, aber auf die Brüstung sollte sie sich besser nicht verlassen. Sie bestand nur aus rostzerfressenen Eisenstangen. Die wenigen Stangen, die bis in den Beton reichten, wirkten, als würden sie sich bei der kleinsten Berührung lösen und mit dem Rest hinunter auf den Hof krachen. Einzig eine verbogene Eisenstrebe, die aus der Hauswand kam, sah einigermaßen stabil aus.
Interessant.
»Hast du keine Angst?«, kam es aus sicherer Entfernung aus dem Wohnzimmer.
»Nein«, sagte Ellen und drehte sich zu Hajo um. Er stand fast an der gegenüberliegenden Wand. »Danke, dass du gestern mitgekommen bist.«
»Kommt nicht wieder vor. Allzu viel Hilfsbereitschaft verdi rbt sonst noch mein Verbrecherimage.« Hajo deutete auf die offen stehende Balkontür. »Kannst du die wieder zumachen? So als Gegenleistung für gestern?«
Ellen schloss die Tür. »Besser so?«
Hajo nickte erleichtert. »Und jetzt? Frühstücken oder arbeiten?«
»Beides gleichzeitig. Da Hasels die Beweise geschreddert hat, brauchen wir einen neuen Ansatzpunkt. Dazu müssen wir wohl oder übel das ganze Gespräch zwischen ihm und Veritatis anhören. Das wird dauern, und dabei können wir essen.«
Hajo kräuselte die Stirn. »Wie langweilig. Du gibst wohl nie auf?«
»Nein. Ich kann mich zwar furchtbar ärgern, wenn etwas schiefgeht, aber Aufgeben steht nicht auf meinem Programm. Du würdest dich wundern, wenn du die Polizeiarbeit kennenlernen würdest, wie sie wirklich ist. Endlose Stunden am Schreibtisch, Akten, Akten und nochmals Akten. Dazwisch en Berichte. Das läuft nicht so wie im Fernsehen.«
»Na, dann ist es ja gut, dass ich dich da rausgeholt habe.«
Das hätte Hajo besser nicht gesagt. Ellen verzichtete auf das Öffnen der Balkontür nur, weil sie unbedingt in den Ermittlungen weiterkommen wollte. Dazu musste sie ihre Emotionen unter Kontrolle behalten. Hajo musste ihre Reaktion spüren, aber er sah keineswegs schuldbewusst aus.
Er hat es absichtlich gesagt. Was hat er vor?
Bei all den Problemen, mit denen sie zu kämpfen hatten, war es nicht leicht, ständig im Blick zu haben, dass Hajo auch noch einen eigenen Plan verfolgte. Aber das tat sie schließlich auch. Es war ein Spiel auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
»Ich mache den Kaffee, du bereitest die Aufnahme vor«, sagte Ellen entschieden.
Das Frühstück ging vorüber, Hasels und Veritatis redeten immer noch. Hasels wollte wirklich alles wissen, und der Professor hatte leider ein äußerst gutes Gedächtnis. Er erinnerte sich an kleinste Details, und Hasels ließ ihn alles beschreiben.
Hajo hatte sich einen Laptop geholt und arbeitete darauf. Ob er überhaupt noch zuhörte, konnte Ellen nicht feststellen. Sie selbst schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können.
Manchmal lagen die wesentlichen Informationen nicht in den ausgesprochenen Worten, sondern zwischen den Zeilen. Außerdem wollte sie nicht nur einen Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen finden, sondern die Gelegenheit nutzen, etwas über Hasels zu erfahren.
Man konnte seine Gegner nie gut genug kennen.
Etwa jede Viertelstunde stand Ellen auf und ging einmal um den Tisch herum, um ihren Kreislauf in Schwung zu bringen. Jedes Mal, wenn sie an Hajo vorbeikam, klickte er den aktuellen Bildschirm weg. Was er wirklich tat, konnte sie nicht herausfinden, genauso wenig wie das, was er gestern im Haus von Danuta gemacht hatte. Wenn Ellen ihn darauf ansprach, tat er so, als hörte er sie nicht. Ellen wusste, dass sie es erfahren würde, irgendwann, wenn es in seinen Plan passte und wahrscheinlich nicht in ihren.
Eins nach dem anderen.
Ellen zwang ihre Gedanken wieder zurück zum Verhör von Veritatis. Hasels stellte sich sehr geschickt an. Er beschäftigte den Professor mit belanglosen Fragen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Zwischendrin streute er andere Fragen ein, im gleichen routinemäßigen Tonfall. Veritatis merkte nichts – aber er verriet auch nichts, weil er nichts wusste.
Ellen hätte es fast verpasst, weil sie gerade wieder aufstehen wollte.
»Haben die beiden Sie nach Romano Pasano gefragt?«, fragte Hasels.
Ellen war sofort hellwach. Das war eine Frage, die nur dann einen Sinn machte, wenn dieser Romano Pasano eine wichtige Rolle spielte. Hajo hatte überhaupt nichts bemerkt, er klapperte auf seiner Tastatur herum.
»Nein, haben sie nicht«, antwortete
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