Zehnter Dezember: Stories (German Edition)
sie für »Tag der Lieblingssachen« im Unterricht gearbeitet hat. Plakat = Foto von allen SG s plus Karte von Heimatländern plus Geschichten, die Lilly offenbar bei Gesprächen (!) mit allen gesammelt hat: Gwen (Moldau) = sehr tough, wegen Jugend in Moldau: gebrauchte blutige Laken vom Müll + Klebeband, um Fußball zu basteln, dann, nach viel Übung mit Ball aus blutigen Laken, fast in Olympische Mannschaft geschafft (!). Betty (Philippinen) hat Tochter, die beim Schwimmen manchmal auf Panzer von Meeresschildkröte reitet. Lisa (Somalia) einmal Löwen auf Dach von Onkels »Mini-Lkw« gesehen. Tami (Laos) hatte Wasserbüffel als Haustier, Wasserbüffel auf ihren Fuß getreten, jetzt muss Tami Spezialschuh tragen. »Witzige Tatsache«: ihre Namen (Betty, Tami usw.) nicht ihre echten Namen. Sondern = SG -Namen, von Greenway bei Ankunft gegeben. »Tami« = Januka = »glücklicher Sonnenstrahl«. »Betty« = Nenita = gesegnet-geliebt. »Gwen« = Evgenia (weiß nicht, was ihr Name bedeutet). »Lisa« = Ayan = »glückliche Reisende«.
Denke heute Abend viel an SG s, Leser der Zukunft.
Wo sind sie jetzt? Warum sind sie gegangen?
Versteh’s einfach nicht.
Brief kommt, Familie feiert, Mädchen vergießt Tränen, packt stoisch Koffer, denkt: muss weg, bin einzige Hoffnung für Familie. Setzt tapferes Gesicht auf, verspricht, sie kommt zurück, wenn Vertrag erfüllt. Gefühl ihrer Mutter, ihres Vaters: Wir können sie nicht gehen lassen. Aber tun es. Müssen.
Ganze Stadt begleitet Mädchen zu Bahnhof/Busbahnhof/Fähranleger? Gruppe fährt mit grellbuntem Van zu kleinem Regionalflughafen? Weitere Tränen und Schwüre. Während Zug/Fähre/Flugzeug anfährt, wirft sie letzten liebevollen Blick auf umgebende Hügel/Fluss/Steinbruch/Hütten, egal, d. h. das, was sie bislang von Welt kennengelernt hat, und sagt sich: Hab keine Angst, du wirst heimkehren & heimkehren als Gewinnerin, inkl. große Geschenktüte usw. usf.
Und jetzt?
Kein Geld, keine Papiere. Wer entfernt Mikroleitung? Wer gibt ihr Arbeit? Wenn sie sich bewerben will, muss sie Frisur so richten, dass Narben an Eintrittspunkten verdeckt. Wann wird sie je Zuhause + Familie wiedersehen? Warum hat sie das getan? Warum alles ruiniert und unseren Garten verlassen? Hätte schöne lange Zeit mit uns haben können. Was um alles in der Welt suchte sie? Was konnte sie sich so sehr wünschen, dass sie so eine verzweifelte Aktion bringt?
Jerry gerade eben Feierabend gemacht.
Leeres Gestell in Garten sieht im Mondschein komisch aus.
Notiz an mich selbst: Greenway anrufen, sollen hässliches Ding abholen.
ZUHAUSE
1.
Wie in der guten alten Zeit kam ich aus dem trockenen Bachbett hinterm Haus und machte mein kleines Getrommel am Küchenfenster.
»Komm rein, du«, sagte Ma.
Drinnen lagen Zeitungsstapel auf dem Herd und Zeitschriftenstapel auf den Stühlen, und ein großes Bündel Bügel ragte aus dem kaputten Ofen. Wie immer, all das. Neu war, dass über dem Kühlschrank ein Wasserfleck in der Gestalt eines Katzenkopfes prangte und dass der alte orange Teppich halb aufgerollt war.
»Bin immer noch keine verpiepte Putzfrau«, sagte Ma.
Ich warf ihr einen komischen Blick zu.
»›Verpiept‹?«, fragte ich.
»Piep dich«, sagte sie. »Bei der Arbeit haben sie sich über mich beschwert.«
Es stimmte schon, Ma war ein ziemlich übles Schandmaul. Und arbeitete jetzt in einer Kirche, also.
Wir standen da und sahen uns an.
Dann kam so ein Kerl die Treppe runtergestapft: sogar noch älter als Ma, in Boxershorts und Wanderstiefeln, sonst nichts, und einer Wintermütze, aus der hinten ein langer Pferdeschwanz raushing.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Mein Sohn«, sagte Ma scheu. »Mikey, das ist Harris.«
»Was ist das Schlimmste, was du da drüben angestellt hast?«, sagte Harris.
»Was ist mit Alberto passiert?«, fragte ich.
»Alberto hat die Kurve gekratzt«, sagte Ma.
»Alberto hat dir seinen Arsch gezeigt«, sagte Harris.
»Ich hab diesem Pieper nichts vorzuwerfen«, sagte Ma.
»Ich hab diesem Wichser eine Menge vorzuwerfen«, sagte Harris. »Inklusive dass er mir einen Zehner schuldet.«
»Harris tut nichts gegen sein Schandmaul«, sagte Ma.
»Sie macht es nur wegen der Arbeit«, erklärte Harris.
»Harris hat keine«, sagte Ma.
»Na ja, wenn ich arbeiten würde, dann nicht an einem Ort, wo mir vorgeschrieben wird, wie ich reden darf«, sagte Harris. »Sondern wo ich reden kann, wie ich Lust habe. An einem Ort, der mich so akzeptiert, wie ich bin. An so
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