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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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rechnete er sich befriedigt vor, dass er die Summe allein schon durch den Wertzuwachs seines Warenlagers um ein Mehrfaches wieder verdient hatte.»
    «Rechnen muss man können.» Der König nickte. Da er dabei auf dem Rücken lag, faltete sich sein Doppelkinn zusammen und wieder auseinander.
    «All die Klöster und Kirchen, die noch über keinen eigenen Märtyrer verfügten und darum im Konkurrenzkampf um einträgliche Pilger nicht mithalten konnten, schrieben ihm Briefe mit immer höheren Angeboten. Manche schickten eigene Delegationen los, was besonders für jene, die jenseits der Alpen angesiedelt waren, einen rechten Aufwand bedeutete. Ein wichtiger Abt kam sogar persönlich angereist, obwohl ihm die Regel seines Ordens eigentlich verboten hätte, die Mauern des Klosters zu verlassen. Er war von einem Trupp extra angemieteter Reisiger begleitet, um die Truhe voller Dukaten zu bewachen, die er mitgebracht hatte. Seine Hoffnung war, den Kaufmann mit dem Glanz des frischgeprägten Goldes überzeugen zu können.»
    «Es gibt nichts so Wahres wie ein Haufen Bares», sagte der König.
    «Genau», sagte die Prinzessin.
    «Geld will jeder haben. Ich kenne das. Du bist die Einzige, die aus reiner Liebe bei mir bleibt.»
    «So ist es», sagte die Prinzessin, die wusste, was von ihr erwartet wurde.
    Der König tastete nach seiner Brieftasche, aber er konnte die Hose, in der sie steckte, nicht gleich finden. «Erinnere mich später daran, dass ich dir etwas gebe», sagte er. «Jetzt will ich hören, wie die Geschichte weitergeht. Hat er diesem reichen Abt etwas verkauft?»
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Obwohl ihm der die ganze Summe, mit der er eigentlich den heiligen Gregorius hatte erwerben wollen, nach ein paar Tagen auch schon für den Schädel des heiligen Archibald anbot. Eine Wochespäter sogar nur für die Hand vom heiligen Balthasar. Und nach noch einer Woche für das Wadenbein vom heiligen ...»
    «Chrysotomus», sagte der König, als die Prinzessin zögerte.
    «Ich hatte es nicht vergessen», sagte sie schnell. «Ich wollte nur sehen, ob du es noch weißt.»
    «Ich habe ein gutes Gedächtnis», sagte der König. «Ein sehr gutes Gedächtnis», wiederholte er, und bei ihm klang das nicht prahlerisch, sondern drohend.
    «Als man ihm schließlich die ganze Kiste voller Dukaten nur für den Zeigefinger der heiligen Dorothea bot, fand der Kaufmann, dass es jetzt an der Zeit sei, seinen Gewinn zu realisieren. Er schloss sich mit dem Abt in seinem Kontor ein und ließ ihn schwören, dass er drei Monate lang niemandem etwas von dem Handel erzählen würde.»
    «Warum denn das?», fragte der König.
    «Um die Preise nicht zu verderben. Bis dahin wollte er sein ganzes Lager geräumt und sich als schwerreicher Mann in den Ruhestand zurückgezogen haben.»
    «Das nehme ich mir auch immer wieder vor», sagte der König. «Nur kommt jedes Mal etwas dazwischen.»
    «Sie verabredeten sich also für die nächste Nacht, wo im Schutz der Dunkelheit die Übergabe ganz diskret stattfinden sollte. Geld gegen Ware. Aber ausgerechnet an diesem Tag traf aus Rom eine Nachricht ein, die ihm sein ganzes Geschäft kaputtmachen sollte. Dort waren nämlich vor einiger Zeit die Katakomben wiederentdeckt worden, und...»
    «Was sind Katakomben?» fragte der König.
    «Unterirdische Gräber aus alter Zeit. Mit Tausenden von Schädeln und Gebeinen.»
    «Alles Heilige?»
    «Ursprünglich nicht», sagte die Prinzessin. «Aber jetzt hatte der Papst beschlossen, dass sie es sein sollten.»
    «Kann man das einfach beschließen?», fragte der König.
    «Wenn man Papst ist, schon. Und wenn man Geld braucht. Er schickte zu dem Zweck einen Kardinal mit einer Delegation in die unterirdischen Gänge, und der gab kraft seines Amtes jedem Knochenbündel einen Namen. ‹Das ist ab sofort der heilige Hyppolit›, sagte er, ‹das hier die heilige Immaculata, da drüben der heilige Jacobus, dort die heilige Konstanze ...› und so weiter und so fort. Jedes Mal schrieb einer seiner Priester den Namen auf, ein zweiter wedelte ein bisschen Weihwasser über die Gebeine, und schon gab es wieder einen Eintrag mehr im Kirchenkalender.»
    «Aber zu diesen Heiligen gab es doch gar keine Geschichten», sagte der König ganz enttäuscht.
    «Geschichten kann man sich ausdenken», sagte die Prinzessin. «Zu jeder der neuen Reliquien wurde eine mitgeliefert. Das war im Preis inbegriffen. Wobei sich bald zeigte, dass die Märtyrergeschichten mit den grausamsten Todesarten

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