Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
Vom Netzwerk:
gekommen war, um für seine Stadt einen ungewöhnlichen Schutzpatron zu erstehen. Sie lösten zwar nicht so viel, wie der Kaufmann ihnen schuldete, aber doch noch einen ganz anständigen Preis. Weil der Bürgermeister nämlich die Geschichte so gut fand, die zum heiligen Lambartius gehörte.»
    «Zum heiligen was?»
    «Das war der Name, den sie sich für ihn ausgedacht hatten. Die Geschichte dazu ging so: Weil er seinem Glauben nicht abschwören wollte, schnitten ihm die bösen Heiden seine Finger ab. Einen nach dem andern. Aber selbst, als seine Hände nur noch blutige Stümpfe waren, schlug er immer noch das Kreuz. Und starb segnend und gesegnet.»
    «Hübsch», sagte der König. «Wirklich hübsch.»
    «Und noch heute pilgern die Leute in jener Stadt zu einem Schrein, in dem die Überreste eines Mannes liegen, dem alle Finger fehlen.»
    Der König wälzte sich grunzend zur Seite und bekam mit einiger Mühe seine Hose zu fassen, die vor dem Bett auf dem Boden lag. Er holte die Brieftasche heraus und fingerte einen nicht zu großen Geldschein heraus. Als er ihn der Prinzessin reichen wollte, stutzte er plötzlich. «Du blutest ja», sagte er.
    «Ja», sagte die Prinzessin.
    «Das ist ja ekelhaft», sagte der König.

Die vierte Nacht
    Der König hatte zum Essen Wein getrunken und war deshalb philosophisch gestimmt. «Warum hör ich mir eigentlich so gern deine Geschichten an?», fragte er.
    «Weil sie nicht wahr sind», sagte die Prinzessin. «Die Wirklichkeit kriegst du umsonst.»
    Der König knetete an seinem Bauch herum. Von Wein bekam er immer Sodbrennen. «Dann bezahl ich dich also dafür, dass du mich anlügst?»
    «Das ist mein Beruf.»
    «Quatsch. Nicht alle deine Kunden lassen sich Geschichten erzählen.»
    «Doch», sagte die Prinzessin. «Am liebsten hören sie die hier.» Sie wölbte ihren Bauch in die Höhe und begann zu stöhnen. «Oh, oh, oh, was bist du doch für ein wunderbarer Liebhaber.» Und hörte mit Stöhnen wieder auf.
    «Das hast du zu mir auch schon gesagt.»
    «Da habe ich es auch gemeint.»
    Der König dachte nach und beschloss, nicht weiter nachzudenken. «Ich hoffe, du hast dir für heute eine besonders schöne Lüge ausgedacht.»
    «Eine besonders schöne Geschichte», sagte die Prinzessin. «Speziell für dich. Und die geht so: In Amerika lebte einmal ein alter Mann, dem gehörte eine große Firma. Erbesaß Taxis, Busse und sogar ein paar Schiffe. Der mächtigste Transportunternehmer von ganz New York. Den Betrieb hatte er selber gegründet, vor vielen, vielen Jahren. Damals, noch vor dem großen Krieg, war er aus Russland gekommen, als ganz junger Flüchtling. Er hatte geglaubt, in ein Land zu gelangen, wo das Gold auf der Straße liegt, und er war bereit, sich zu bücken und es aufzuheben. Als die Fähre von Ellis Island am Pier anlegte, sprach er kein Wort Englisch. Die einzige Arbeit, die er finden konnte, war Autowäscher in einer Garage.»
    «Weißt du, was mein erster Job war?», fragte der König. «Ich musste jeden Tag in allen Zeitungen die Todesanzeigen lesen. Wenn der Verstorbene ein Mann war, haben wir einen Packen Pornohefte an die Adresse geschickt. Mit Rechnung. Haben behauptet, die hätte er kurz vor seinem Tod noch bestellt. Das war den Hinterbliebenen dann so peinlich, dass sie meistens bezahlt haben.»
    «Auch nicht schlecht», sagte die Prinzessin.
    «Vielleicht hätte ich in der Branche bleiben sollen», sagte der König nachdenklich. «Es gibt nichts Sichereres als den Tod.» Ihm war immer noch schwer philosophisch zumute.
    «Soll meine Geschichte lieber von einem Bestattungsinstitut handeln?», fragte die Prinzessin.
    «Nicht nötig», sagte der König. «Schon gut. Erzähl nur weiter.»
    «Kaum hatte der Einwanderer ein bisschen Englisch gelernt», fuhr sie also fort, «verließ er die Garage und wurde Fremdenführer auf einem Touristendampfer, der jeden Tag dreimal um die Südspitze von Manhattan fuhr. Den Hudson River hinunter und den East River hinauf. Und dannden East River hinunter und den Hudson River hinauf. Er wusste nichts von New York, aber er kaufte sich einen Stadtplan mit Beschreibungen und lernte den auswendig. Die Passagiere hatten zwar denselben Stadtplan in der Tasche, aber wer für eine Rundfahrt einen Dollar bezahlt hat, will für sein Geld auch etwas haben. Es waren immer mehrere Fremdenführer an Bord, aber er war der beliebteste, weil er auf jede Frage eine Antwort bereit hatte. Von jedem markanten Gebäude wusste er ganz genau zu sagen,

Weitere Kostenlose Bücher