Zeilen und Tage
da die Finanzierung der neuen Leistungen undurchsichtig bleibt und ganz von Haushaltsakrobatik und Inflationsbereitschaft abhängt.
Das Buch der Rekorde notiert: Obama hat als erster amerikanischer Staatschef ein unamerikanisches, strukturell europäisch-sozialdemokratisches Gesetz durchgebracht und sich gegen die republikanische Anti-Welfare-Stimmung behauptet.
25. März, Karlsruhe
Es gibt nur zwei Arten von Gesprächen, die befriedigen: die verbale Fellpflege zwischen sprechenden Wesen mit und ohne Ehering, und den nicht allzu harmonischen, nicht allzu bösen Dialog, bei dem man eigene Gedanken durch den Widerstand des anderen klarer faßt.
Die Eskapade
Über die Ausnahme als rhythmische Erscheinung
Nach dem Einsetzen des Tauwetters in Norddeutschland tauchen Hunderte Tonnen von unterm Eis erstickten Fischen auf, die die Gewässer verpesten. Bei Gelegenheit auch als Metapher verwendbar.
27. März, Berlin
Ob der Marktanteil der Radikalität nicht zu jeder Zeit konstant bleibt?
Jeremy Rifkin hat ein nicht sehr gutes Buch über eine sehr gute Idee geschrieben: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewußtsein. In einem solchen Fall muß man sich entscheiden: entweder Buch und Autor in Grund und Boden kritisieren, in der Erwartung, daß die Kritik Besseres provoziert, oder aus Respekt vor der Idee aus Leibeskräften lügen und ausposaunen, man habe es mit einem großen Wurf zu tun.
Unsere Freunde Negri, Žižek, Badiou et alii verhalten sich auf intellektuellem Gebiet, als hätten sie die Regel der Kinderbuchautorin Enid Blyton verinnerlicht: »Kritik von Leuten über zwölf interessiert mich nicht.«
Wird Empathie als allgemeine anthropologische Mitgift erwiesen, fällt der Rigorismus in der Ethik beiseite. Früher hieß es: Ob du kannst oder nicht, du sollst! Jetzt gilt: Du sollst, denn im Grunde kannst du!
28. März,Wolfsburg
Dank Joschka Fischer und Hans Ulrich Gumbrecht gelang eine passable Sendung des »Philosophischen Quartetts« über die Veränderung der Welt durch die Wiederanerkennung der Empathie als natürlicher Mitgift von homo sapiens – ausgehend von Rifkins überzogen optimistischen Thesen, wonach ein Weltalter globaler empathiegetragener Kommunikation vor uns liege.
In der Sache, so stellt sich heraus, geht es weniger um Fragen der menschlichen Natur als um die psychopolitischen Implikationen der Weltverdichtung durch Medien, die Gleichzeitigkeitsdruck erzeugen. Was heißt es, in einer Welt zu leben, in der man eigene und fremde Angelegenheiten zunehmend weniger trennen kann? Lange bevor die Völkerrechtler über ein Recht auf Einmischung zu diskutieren begannen, haben ganze Kompanien von Einmischungsarbeitern – Missionare, Händler, Wissenschaftler, Globetrotter, Fotografen, Firmengründer, Journalisten und Massentouristen – ihre Übergriffe vollzogen. Dann folgte eine kurze Episode, in der sich die Nationen auf das Prinzip der Nichteinmischung zu berufen versuchten.
Inzwischen hat sich die Tele-Empathie zur führenden Einmischungsmacht erhoben. Kein Staat kann länger behaupten, er habe ein Monopol auf die Verwaltung seiner »inneren Angelegenheiten«. Die Idee der inneren Angelegenheit ist in der Synchronwelt obsolet geworden. Die innerste aller Angelegenheiten war das Privileg der lokalen Kulturen, in der Eigenzeit zu leben und ihren idiosynkratischen Rhythmen zu folgen – beide Vorrechte sind in der Globalisierung verdampft. Nun stellt sich die Frage, ob nicht die Empathie, wenn sie so weit ausgreift, nicht selbst ein imperiales Medium wird.
29. März, Berlin
Mittags mit Frank-Walter Steinmeier und einigen jüngeren Begleitern aus seinem Stab in einem kleinen italienischen Lokal in der Nähe der Katholischen Akademie zu einem Gespräch über Steuern, Geberkultur und die potentielle kulturelle Regeneration der SPD.
30. März, Karlsruhe
Dahrendorf nannte das deutsche Bildungsbürgertum um die hochgesinnten Familien von Hentig, von Dönhoff, von Weizsäcker u.a. beiläufig »eine protestantische Mafia«. Von der Heiterkeit der Formulierung ist nach dem Aufplatzen der Giftblase an der Odenwaldschule nichts mehr zu spüren. Jetzt geht es dem päderastischen Elitismus insgesamt an den Kragen, der in den diversen Ausprägungen der Reformpädagogik in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg diskret den Ton angegeben hatte.
Aufklären oder vertuschen: sobald man die Alternative so formuliert, ist sie im voraus entschieden. Ebenso klar ist die zu treffende Wahl zwischen
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