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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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den Optionen »Mißbrauch verschweigen« oder »Mißbrauch aufdecken« – wäre nur der Verdacht zu vermeiden, daß beim Geschäft des Aufdeckens nicht selten ein Mißbrauch zweiter Ordnung ins Spiel kommt! Solange der Sekundärschaden nicht größer wird als das ursprüngliche Unrecht, muß man sich für Aufklärung einsetzen.
    Ironie der Gerechtigkeit: Von der Traufe zurück in den Regen. Vor 20 Jahren von Erziehern mißbraucht, heute den berufsmäßigen Opferverstehern ausgeliefert.
    Die kleinlaut gewordenen Verteidiger des alten eros-pädagogischen Systems deuten nur mehr durch die Blume an, wie sie im Grunde noch immer empfinden: besser von einer Eins penetriert als von einer Null in Ruhe gelassen.
    Daniel Everetts Buch Das glücklichste Volk , das von Sprache und Kultur der Pirahãs, einer kleinen Population von Indianern an einem Nebenfluß des Amazonas, handelt, ist nicht nur eine ethnologische, sondern darüber hinaus eine anthropologische Sensation. Offensichtlich sprechen diese Menschen eine der archaischsten Sprachen, die je beschrieben wurde – eine Sprache, die keine Zeitstufen kennt und ohne Zahlwörter, ohne Farbwörter und ohne rekursive Funktionen auskommt, das heißt ohne die Möglichkeit, Nebensätze zu bilden. Dafür besitzen die Pirahãs, wie es scheint, den subtilsten aller Begriffe: Sie haben ein Wort, das das Eintreten von Vorgängen in den präsenten Erlebnisraum und ihr Austreten daraus bezeichnet: Es scheint, man hat brasilianische Vorsokratiker entdeckt, die das von Heidegger denkerisch umkreiste Er-Äugnis beiläufig artikulieren können.
    Zudem ist zu erfahren, daß die Menschen dieser Kultur über eine Fähigkeit verfügen, die wir als Gruppenhalluzination bezeichnen würden – sie sehen gleichzeitig einen drohenden Geist am anderen Ufer des Flusses. Wir haben diese Möglichkeit erst durch das Kino wiedererlangt.
    Auch gleichen die Schlafmuster dieser Menschen in keiner Weise denen der heutigen westlichen Populationen. Der Begriff »Nachtruhe« läßt sich auf ihre Lebensform kaum anwenden. Daher der englische Buchtitel: Dont sleep, there are snakes . Sie scheinen nie mehr als ein, zwei Stunden durchgehend in einem schlafanalogen Zustand zu ruhen; ob sie dabei Tiefschlafphasen erreichen, ist nicht gewiß.
    Die Beschreibung dieser amazonischen Menschen ruft bei mir die Erinnerung an eine indische Klassifikation von Erleuchtungstypen wach: Man hätte es demnach mit einem Volk von Erleuchteten erster Stufe zu tun, die zwar schon die Sprache haben, aber noch nicht von der Reflexion ins Elend gestürzt werden, und zwar wohl deswegen nicht, weil sie keine Vergangenheits- und Zukunftsformen des Verbums kennen. Sie haben die Vertreibung aus dem Präsens nicht erfahren – weder grammatisch noch existentiell.
2. April, Montepulciano
    Der vorösterliche Leitartikel in La Repubblica bringt einen deprimierenden Gedanken zum Ausdruck: Ganz Italien sei von dem Gefühl der Schande über die unheilbare Vulgarisierung, Verdummung und Korruption der öffentlichen Sphäre durchdrungen. Nirgends ein Zeichen von Besserung. Aufrichten könne sich das Land allein an der Vorstellung, daß zur Stunde italienische Ärzte und Missionare in Afrika ein wenig Gutes bewirken – von der Lage des Katholizismus im eigenen Land mag der Autor offensichtlich nicht reden. Ein paar im humanitären Außendienst verlorene Italiener – das scheint die letzte Rückzugslinie der landeseigenen Kultur zu sein, indessen man alles, was hier selbst mit Bürgersinn, Humanismus, Aufklärung, Zivilgesellschaft und positiver Staatlichkeit zu tun hätte, unter die Verlustposten rechnet.
    Solche trostlosen Befunde stehen in einem seltsamen Widerspruch zu dem Wohlgefühl, das die Menschen im Land ganz unübersehbar nicht verloren haben. Das könnte ein Ausfluß der südlichen Ethik sein, in der das System D zum Lebensstil gehört. Die Verschwörung der fröhlichen Steuerhinterzieher macht diesen selbst das Dasein leichter, wenn sie auch den Staat destabilisiert. Und da weder die Touristen noch die Weinfreunde der Toskana bis auf weiteres untreu werden, muß die Region die schnelle Verarmung nicht fürchten. Geht es bergab, so im venezianischen Modus. Von Italien lernen heißt die relative Langsamkeit des Verfalls als Gewinn feiern.
    Als die Sonne gegen Mittag für akzeptable Temperaturen sorgt, steht einer Exkursion mit dem Rad nichts mehr im Weg: über Pienza bis San Chirico d’Orcia und zu den Bädern von Vignoni, wo Tarkowski in

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