Zeilen und Tage
aufzubauen, und wenn es den Ruin der Institution kostete. Damisch meint, nur noch mit Ironie könne man dort überleben, der Rest ist innere Emigration.
Neidisch will niemand sein (sollen sie doch ihren Champagner saufen!), aber zugreifen wollen sie doch alle.
19. März, Karlsruhe
Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Perfidien aus den psychosexuellen Katakomben der katholischen Kirche bekannt werden. Die gelobt, solange Presse da ist, vollständige Aufklärung – aber wer zur Aufklärung gezwungen werden muß, ist als Ermittler nicht zu gebrauchen. Merkwürdig, wie sehr die Protestanten in Deutschland ruhig halten, obwohl sie allen Grund hätten, in die Offensive zu gehen. Mit den besten Gründen dürfen sie daran erinnern, warum sie sich vor fast 500 Jahren durch die Wiederzulassung der Priesterehe von dem System der Schweinerei abgesetzt hatten.
Schlafen wie hundert Murmeltiere im Heizungskeller auf großen weichen Säcken.
20. März, Karlsruhe
Max Frisch stellt die basale Schriftstellerfrage: »Muß ich etwas zu sagen haben?«
Irrtum. Keine Schriftstellerfrage, sondern das Knurren eines übellaunigen Staatsbürgers. Den Schriftsteller würde das Nichts-zu-sagen heiter stimmen, da es die Voraussetzung dafür ist, daß die Sprache feiert.
Auf alles gefaßt
Umrisse einer philosophischen Immunologie
a) Fassungslosigkeit
b) Es ist passiert: Schadensbewußtsein
c) Verletzungserwartung und Schadenserwartung im allgemeinen
d) Angeborene und eingerichtete Vorkehrungen
e) Ritual und Abwehr
f) Jenseits des Rituals: Das Recht als Immunsystem des Gesellschaftssystems
g) Schemata der Unverletztheit: Hausfrieden, Gesundheit, blühender Staat
h) Heilsbilder im Zeitalter der großen Reparaturen: Die therapeutischen Utopien
i) Immunsysteme im Zeichen ihrer biologischen Darstellung
j) Neuropsychoimmunologie: Warum der Glaube Berge versetzt
k) Ko-Immunität: Zur Psychosomatik des Weltgesellschaftskörpers
l) Postmonotheistische Bündnisse
m) Immunparadoxien: Selbstzerstörung durch Übersicherung
n) Versicherung, Gefaßtheit, Gelassenheit
Zur Fortsetzung der Bastardologica: Houellebecq nennt im Gespräch mit André Müller die Gleichgültigkeit das beste Mittel gegen die Angst. In eigener Sache erklärt Müller, er habe »die Arschloch-Gene« von seinem Vater.
21. März, Karlsruhe
Zur Bestheit der Welt gehört die Existenz von Individuen, die vom Guten nichts wissen wollen und jede lokale Verbesserung verabscheuen. Jean Genet legt die Spielregel der ontologischen Opposition offen: »Ich möchte, daß die Welt sich nicht ändert, damit ich gegen die Welt sein kann.«
22. März, Bonn
Im Gebäude der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf der Kennedy-Allee: Mit Beat Wyss, Peter Weibel, Uwe Hochmuth und Marc Jongen spricht unsere Schule beim Bonner Theorie-Vatikan vor, um den bei uns seit mehr als einem Jahr erarbeiteten Antrag auf Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs »Technik als Kultur« zu präsentieren.
Der Mißerfolg hätte nur größer sein können, wenn das Ablehnungsklima in der fünfköpfigen Jury offen frostig gewesen wäre. Die Juroren, wie auch die verfahrensgeübten jungen DFG-Damen, zeigten sich wohlwollend, ein wenig herablassend, gelegentlich nachfragend, wie es zur Komödie der eingehenden Prüfung gehört. Zuletzt taten sie so, als litten sie selber mehr als wir darunter, daß man sich nicht zu einem positiven Votum habe durchringen können.
Die Narren waren natürlich wir selbst gewesen, wenn wir geglaubt hatten, ein solches Projekt, das die Turbulenz einer Avantgarde-Unternehmung in sich trug, könnte in einer vorsichtigen und auf jede Freiheit eifersüchtigen Theoriebürokratie Anklang finden.
Man klopft den Antragstellern auf die Schulter, gut gemeint. Und nun zum nächsten Vorgang.
Enttäuschung und Erleichterung halten sich die Waage. Die enttäuschte Partei sagt spitz: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann forschen sie noch heute. Die erleichterte sieht sich im Freien um: Der Prozeß hat mit Freispruch aus Mangel an Beweisen geendet. Der Frühling ist nahe.
Abends bei einem Italiener in Bonn mit Paul und Guni. Das Gespräch beginnt, wo es zuletzt geendet hatte. Die Jahre haben uns nicht getrennt.
Man nennt Barack Obamas Erfolg bei der Durchsetzung der Gesundheitswesenreform in den USA einen »historischen Triumph«, weil ihm gelungen sei, woran sieben frühere Präsidenten gescheitert waren. Evident ist jedoch, daß der Durchbruch bis auf weiteres eher symbolischer Natur ist,
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