Zeilen und Tage
Romantik, nachdem Rousseau im fünften Spaziergang der Rêveries das Recht des Einzelnen auf eine sich selbst genießende Nutzlosigkeit proklamiert hatte. Das »süße Gefühl des bloßen Daseins«, das er in der Drift seines Bootes auf dem See erfuhr, stiftete das bürgerliche Pendant zur aristokratischen douceur de vivre.
In der Revolution heißt es dann mit einem Mal: das Glück – eine neue Idee in Europa! Gleichwohl werden die Jakobiner mit ihm keine Bekanntschaft machen. Erst unter Louis-Philippe, Napoleon III. und Queen Victoria blühen die ersten Konsumgesellschaften. Noch starrt das Bürgertum auf den Adel, um dessen sorglosen Zugriff auf die Glücksgüter des Lebens nachahmen zu können – die Bohème hatte ja von oben begonnen. Mit der Industrie gewinnt die Idee der Massenproduktion an Boden, die guten Dinge werden billiger. Auch Ladenmädchen könnenjetzt an Seidenstrümpfe denken, die Frauenbeine wollen sichtbar werden. Die Roaring Twenties beweisen, daß das Volk der Angestellten mitfeiert, sobald man es am Freizeitkult beteiligt. Das Wort »weekend« wird in alle Kultursprachen übersetzt.
Von 1968 an nähert die allgemeine Bohèmisierung sich ihrem Ziel, die Massenkultur ergreift die Macht und garantiert die traumböhmischen Standards für alle Schichten. Popmusiker empfangen Journalisten im Bett liegend und geben hyperdebile Antworten auf grenzdebile Fragen. Die Botschaft wird verstanden, das Volk zieht sich aus. Die Haut wird zur Annonce, die Töchter der lustigen Witwe führen ihre Tattoos an entlegenen Stellen vor.
Mit einer Figur wie Berlusconi erobert ein dauererigierter Clown die Kommandohöhe eines ehemaligen Kulturlandes. Der moderne Traum von der Gleichheit der Menschen ist verwirklicht, wenn auch nur in der Form der Gleichheit aller vor der Lächerlichmachung. Jetzt stürzen wir wirklich vorwärts, rückwärts, nach allen Seiten.
Wie die Szene auf dem Bieler See in Goethes Gedichten am Wasser weiterwirkt:
Auf dem See: »Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? …«
Am Fluß: »Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt …«
Vom Hotelfenster aus zu sehen: Golfspieler bewegen sich wie kleine Gruppen unschlüssiger Tiere in Beige über den Rasen, unsicher, ob sie allein oder mit anderen spielen sollen.
Nach einer Regenepisode dringt die Sonne durch die Nebelstreifen über dem See. Von Zeit zu Zeit gleitet eine Limousine lautlos den Berg hinab, die Vögel durchqueren den Himmelssektor. Aus dem Samstag ist unversehens ein Sonntag geworden. Vor solch einem Bild findet der Weltallergiker für einige Momente Ruhe.
3. Mai, Haiden Appenzell
Die Idylle zwingt die Einzelheit in ihren Rahmen. Die Wiesen lachen, wie im Rhetorikkurs gelernt, das Alphornbläserensemble verbreitet vom späteren Vormittag an unerbittliche Biederkeit.
Nun fehlt nur noch, daß die freundlichen Geister bei der Jahresversammlung der »Kleinen Landgemeinde« die Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen wiederholen. Der Weltlauf arbeitet in ihrem Sinn, da er den großen Spielern die wohlverdiente Lektion erteilt.
Die Krise macht das moralische Genießen leichter. Man nennt die Bösen beim Namen, die Gierigen heißt man gierig, die Grenzenlosen grenzenlos. Konfuzius wäre mit den Appenzellern zufrieden, da hier die Welt der Benennungen wieder in Ordnung gebracht wurde. In der Almenhöhe erkennt man die Grenzen an, man wächst nicht mehr über sich hinaus, man will nicht immer größer und größer werden, und die übrigen sollen es auch nicht mehr wollen.
Zorniges Unbehagen ergreift die Freundlichen, wenn sie die Ankündigung der Wirtschaftsinstitute lesen, wonach schon für 2010 ein Aufschwung erwartet wird. Den Besitzern des guten Willens fällt es schwer, sich mit der Tatsache abzufinden, daß der globale Trend zu Bereicherung, Entlastung und Individualisierung, der vor über zweihundert Jahren von Europa ausgehend die Welt zu verändern begann, trotz Krise und romantischer Genügsamkeit am Rand der Alpen dort draußen weitergehen wird, egal was man auf den Appenzeller Höhen dazu sagt.
Wie jede Macht hat auch die Macht der Schwachen ihre Parasiten.
Man hat nie genug drauf geachtet, daß der Klerus noch heute – seit wann eigentlich? vermutlich seit dem späten Mittelalter – nichts anderes darstellt als die am besten getarnte von allen Bohème-Kulturen. Allenfalls könnte man noch den Beamtenstaat als eine gut camouflierte Organisation bohèmischer Interessen
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