Zeit der Dunkelheit (Band 4)
schien dem WindClan nicht mehr so wichtig. Vermutlich waren sie zu sehr damit beschäftigt, im Wald zu jagen.
Distelpfote ließ den Blick über das weite Moorland schweifen. Wie ein riesiger Katzenbuckel wölbte sich der Hügel einem cremefarbenen Himmel im frühen Morgengrauen entgegen. Aus Cremeweiß wurde Gelb, während sich die Sonne gegen die Dunkelheit durchzusetzen begann, die Nacht verdrängte und zartrosa Flecken auf dem Hügel verteilte.
Als es am Himmel heller geworden war, fiel Distelpfote eine Gestalt auf dem Hügel auf. Sie kniff die Augen zusammen, um genauer hinzusehen. Die Größe ließ sich schlecht schätzen. Aber dann tauchte die Morgensonne den Hang in helles Licht, sodass sie die Umrisse einer Katze erkennen konnte. Ihr Gesicht verjüngte sich an der Nase, der lange Rücken war weich geschwungen und der gebogene Schwanz endete in einer Quaste. Den Kopf trug sie auf eine stolze und herrschaftliche Weise erhoben, hatte die großen, weit auseinanderliegenden Ohren gespitzt und blickte auf den See hinab.
Distelpfote erstarrte. »Ein Löwe!«
»Ein Löwe?« Ampferschweif kam angerannt. »Wo?«
Distelpfote deutete mit der Schnauze auf die Gestalt, die reglos auf dem Hügel stand.
Ampferschweif schüttelte den Kopf. »Das ist bloß eine Katze.« Sie sah genauer hin. »Sieht aber nicht nach WindClan aus. Viel zu kräftiger Körperbau und zu langes Fell.«
Distelpfote blinzelte und musste Ampferschweif recht geben. Aber für einen Moment hatte die Gestalt tatsächlich wie ein Löwe ausgesehen. Sie kannte die Geschichten über Löwen, die in der Kinderstube leise geflüstert wurden – riesig und wild tauchten sie auf wie Sonnen und schlugen ihre Feinde in die Flucht.
»Wir sind mit den Markierungen fertig!«, rief Farnpelz vom Waldrand. »Lasst uns umkehren, dann kann die Morgenpatrouille aufbrechen.«
Ampferschweif machte kehrt und eilte zu ihm. Distelpfote riss sich vom Anblick der Katze los, die immer noch vor dem Horizont stand. Wurden sie von ihr beobachtet?
»Distelpfote glaubt, einen Löwen gesehen zu haben«, berichtete Ampferschweif Farnpelz und Dornenkralle, während sie zum Lager zurückliefen. »Auf dem Moor.«
»Einen Löwen?« Farnpelz’ Augen blitzten spöttisch. »Bist du sicher, dass du nicht immer noch träumst?«
»Ja, ich habe bestimmt nicht geträumt!«, miaute Distelpfote gekränkt. »Und die Katze hat wirklich wie ein Löwe ausgesehen.«
»Sie hat seltsam ausgesehen«, gab Ampferschweif zu. »Eine WindClan-Katze war das nicht, so viel ist sicher.«
»Sie soll sich bloß nicht über die Grenze wagen«, knurrte Dornenkralle.
Rußpfote kam durch den Brombeervorhang geschlüpft, als Distelpfote den Felsenkessel betrat. Sie humpelte über die Lichtung zum Dornentunnel.
Distelpfote gesellte sich zu ihr. »Wo willst du hin?«
»Ich gehe schwimmen.«
»Ganz allein?«, fragte Distelpfote überrascht.
»Häherpfote hat zu tun, er muss Kräuter sortieren, und Blattsee meint, es sei in Ordnung, wenn ich es langsam angehe.«
Distelpfote fiel auf, dass Rußpfote beim Sprechen nicht mehr vor Schmerzen nach Luft schnappte. »Fühlst du dich besser?«
»Viel besser.« Rußpfote blieb stehen und streckte sich. Ihr verletztes Bein zitterte vor Anstrengung, aber sie sah nicht mehr verspannt aus.
»Kann ich mitkommen?«, fragte Distelpfote.
»Bist du nicht müde?«
»Jetzt nicht mehr.« Der Anblick des ›Löwen‹ auf dem Moorland hatte sie hellwach gemacht.
Rußpfote schnurrte. »Über Begleitung würde ich mich freuen.« Sie warf Distelpfote einen Seitenblick zu. »Soll ich dir zeigen, wie man schwimmt?«
Distelpfote erschauderte bei dem Gedanken an einen kalten, nassen Pelz. »Nein, danke!«
Nase an Schwanz tappten sie durch den Dornentunnel. Die Sonne kletterte am Himmel hoch, wärmte den Wald und die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Distelpfote mochte den Wald, der jetzt die frostige Reinheit des beginnenden Blattfalls hatte. Zerzaust und unordentlich quollen die Pflanzen über die Wege und unter den Bäumen sprossen schlanke Schösslinge zwischen den Wurzeln. Sie fand den Wald jetzt voller und üppiger als je zuvor.
Langsam kletterte sie mit ihrer Freundin die Böschung zum See hinab, damit Rußpfote trotz ihrer Verletzung mit ihr Schritt halten konnte.
»Hast du auch gemerkt, wie Honigfarn ständig hinter Beerennase herläuft und ihn dabei anschmachtet?«, miaute Rußpfote.
»Allerdings!«, bestätigte Distelpfote. »Sie scheint ihn für ein Geschenk des
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