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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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da. Dafydd blätterte lustlos in den Moose Creek News. Ians Blick war weit weg, irgendwo zwischen Schüben von Demerol, aufgepeppt durch Whisky und verlängert durch Kettenrauchen.
    »Ich hatte mal eine Frau«, sagte Ian plötzlich.
    »Du warst verheiratet?« Dafydd ließ die Zeitung sinken und starrte Ian an. »Davon hast du mir nie erzählt.«
    »Sie hieß Lizzie. Ich habe sie geliebt. Zu Tode geliebt, im Wortsinne.«
    »O Gott nein, Ian. Wie meinst du das?«
    »Sie ist an einem Stück Truthahn erstickt, einem Weihnachtstruthahn, den ich selbst zubereitet hatte.« Ian lachte grimmig. »Und sie hatte den Entschluss gefasst, am 1. Januar Vegetarierin zu werden. Es war ihr wirklich ernst damit.«
    »Mein Gott, Ian. Das ist ja schrecklich.« Dafydd streckte die Hand aus und berührte Ians Knie. »Warst du … dabei, als es geschah?«
    »Ja, ich als frischgebackener, junger Arzt. Aber trotz meiner medizinischen Ausbildung konnte ich sie nicht retten. Ich hab die Heimlich-Methode angewandt, die heute absolut verboten ist; also hab ich die Situation vermutlich noch verschlimmert. Dann wollte ich das verdammte Ding mit dem Finger rausholen und danach aus Verzweiflung mit einer Pinzette. Es war fast unmöglich, sie festzuhalten. Schließlich habe ich eine Tracheotomie mit einem Schweizer Armeemesser gemacht, dem schärfsten Gegenstand, den ich hatte. Sie war bereits blau angelaufen, dem Tode nahe, und ich muss in Panik geraten sein. Habe die Sache völlig versaut. Alles war voll mit Blut. Ich werde das Bild nie aus dem Kopf kriegen.« Ian lachte erneut. Es war ein durch Mark und Bein gehender Schrei, der irgendwo zwischen Angst und Heiterkeit lag. »Die Polizei hat mich wegen Mordverdachts eingesperrt, bis die Autopsie durchgeführt war und die Ergebnisse vorlagen. Man konnte es den Leuten nicht verdenken, ich habe mich selbst wie ein Mörder gefühlt. Außerdem war ich durcheinander und dachte, ich hätte sie erstochen. Sogar nachdem die Todesursache amtlich festgestellt war, sahen mich alle noch schief an. Sie hatten große Bedenken, mich wieder auf die Menschheit loszulassen.«
    Dafydd durchfuhr ein eisiges Entsetzen. Das also war Ians Geschichte. Sie erklärte alles. »Wie lange ist das her?«
    »Oh, es war rund acht Monate, bevor ich hierherkam.«
    Warum hatten sie bloß nie darüber gesprochen? Dabei waren sie angeblich Freunde gewesen! Wie relativ harmlos war sein eigenes Unglück im Vergleich mit Ians Tragödie! Was Derek betraf, so war Dafydd mit einem blauen Auge davongekommen und hatte dann nur mit seinen eigenen Schuldgefühlen und seiner Angst fertig werden müssen. Aber dies! Wie sollte ein Mensch je solch eine Katastrophe verwinden? Die Antwort war offensichtlich: Niemand konnte das.
    »Aber du hast getan, was du tun konntest«, sagte Dafydd hilflos. Er griff nach Ians Arm und schüttelte ihn kräftig. »Mehr war nicht zu erwarten. Du bist nur ein Mensch.«
    »Ein Mensch?«, höhnte Ian. »Ich sollte ein Arzt sein.«
    Dafydd sackte auf seinem Stuhl zusammen. »Ja, ich weiß, was du meinst.«
    Ian kippte den Inhalt seines Glases hinunter. »Dafydd, alter Kumpel. Ich weiß Bescheid. Sheila hat mir erzählt, was dir passiert ist. Scheiße, Mann, ein Kind …«
    Sie verfielen in ein weiteres langes Schweigen.
    »Hast du noch irgendwo Familie, Ian?«
    »Nicht mehr. Nicht, dass ich wüsste.«
    »Wie meinst du das?«
    »Meine Eltern sind bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Ich glaube, ich hab’s dir mal erzählt. Ich bin adoptiert worden. Nach dem Medizinstudium habe ich den Kontakt zu meinen Adoptiveltern verloren. Wir … haben uns entzweit.«
    »Hast du nie daran gedacht, wieder mit ihnen Kontakt aufzunehmen?«
    »Um Himmels willen, nein. Ich … ich war immer eine Enttäuschung für sie, bin den Erwartungen nie wirklich gerecht geworden. Teufel, ich habe mein Studium abgeschlossen und meine Ausbildung beendet …« Er drückte die Zigarette kraftvoll aus und zermalmte den Stummel mit Drehbewegungen im Aschenbecher. »Sie waren schon ziemlich alt. Ich bin sicher, dass sie inzwischen gestorben sind.«
    Sie saßen schweigend da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Dafydd wurde von einem seltsamen Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen. Es war, als habe ihn Ians Geschichte noch weiter von seinem eigenen bequemen Leben fortgeschleudert, das jetzt unwiederbringlich zerstört zu sein schien.
    Aber das traf nicht zu! Er musste sich immer wieder vor Augen führen, dass er zurückkehren und die Fäden wieder

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