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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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auf; auch er war ein Fleischberg.
    »Nein, er verschreibt mir einfach nur meine Injektionen.«
    »Darum geht es. Möglicherweise können Sie auf die Injektionen verzichten, wenn Sie etwas abnehmen – ziemlich viel abnehmen.«
    Dafydd sah hoch und begriff, dass dies nie geschehen würde, und deshalb verzichtete er auf weitere Ausführungen. Er untersuchte den Mann und war überrascht zu erfahren, dass Joseph erst achtundvierzig Jahre alt war. Das Klima hier war rau und die Lebenserwartung kurz. Er stellte das Rezept aus und reichte es dem Patienten. Mit einem knappen »Danke« ging Joseph in Richtung Tür.
    »Haben Sie Familie, Joseph?«, rief Dafydd hinter ihm her.
    »Warum fragen Sie?« Josephs Stimme klang misstrauisch, aber er blieb stehen und drehte sich um.
    Dafydd zuckte die Schultern. »Es ist nur, weil ich überhaupt nichts über Sie weiß.«
    »Nein, wie denn auch«, antwortete Joseph sarkastisch. »Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen: Selbst mein Großvater wusste nichts über mich. Er hat noch nicht einmal meine Kinder kennen gelernt. Ich habe vier. Das hat ihn nicht interessiert.«
    »Ach so.« Dafydd bedeutete ihm, zurückzukommen und sich wieder hinzusetzen. Er wollte herausfinden, was diesen Mann so bitter gegenüber der Welt hatte werden lassen und warum er so gar nichts von Bears Frohsinn besaß. »Ich erinnere mich, dass er mir erzählt hat, Ihre Frau würde ihn nicht sonderlich mögen. Sleeping Bear war wohl in Ihrem Haus nicht willkommen.«
    »Sleeping Bear!«, höhnte Joseph. Unvermittelt setzte er sich wieder auf den Stuhl, von dem er gerade aufgestanden war. »Sie glauben, dass Sie mit einem echten alten Indianer befreundet gewesen sind, nicht wahr? Aber er war kein Eingeborener, noch nicht mal ein geborener Kanadier.« Er musterte Dafydd triumphierend. »Ich wette, Sie hatten keine Ahnung.«
    »Doch, ich wusste Bescheid«, widersprach Dafydd.
    Ein Hauch von Überraschung glitt über Josephs fleischiges Gesicht. »Na, ich weiß nicht, was für einen Eindruck Sie von dem alten Mann hatten, aber er war alles andere als ein perfekter Familienmensch.«
    »Das habe ich vermutet«, gab Dafydd zu. »Das Verhältnis zwischen Ihnen beiden war nicht immer ganz einfach, oder?«
    »Nun machen Sie aber mal ’nen Punkt.« Joseph legte seine dicke Handfläche auf den Tisch. »Er lag mir sehr am Herzen. Hab ihn versorgt, so gut ich konnte. Und er hat mir dafür nie gedankt. Er war ein egoistischer alter Knochen.«
    »Sie waren ihm teuer«, entgegnete Dafydd. »Das weiß ich.«
    »Einen Teufel war ich. Seine eigene Familie war ihm egal. Aber das hat ihn nicht daran gehindert, überall in der Gegend seinen Samen zu verstreuen …«
    Nun war es an Dafydd, sich zu wundern. Er entsann sich noch deutlich an die Erzählungen des alten Mannes über die Härten seiner ersten Jahre in der Wildnis und darüber, wie er sich in eine wunderschöne Indianerin verliebte. Bear schien in der Erinnerung an seine lange und glückliche Ehe zu schwelgen. Wie oft hatte er von seiner Gattin erzählt, einer stoischen, humorvollen und zärtlichen Frau, die nichts anderes tat, als ständig zu arbeiten und ihre Familie zu versorgen.
    »Was genau meinen Sie damit?«, fragte Dafydd.
    Joseph schien sich über sich selbst zu ärgern und blickte mit irritiert zusammengezogenen Brauen auf seine Stiefel. »Ach, zur Hölle. Ich hatte gedacht, dass Sie informiert sind«, antwortete er mürrisch.
    Dafydd lachte, um die Stimmung aufzulockern. »Nein, aber ich würde es gern hören. Der alte Mann hat häufig von seiner Frau und den Kindern erzählt, aber andere hat er nicht erwähnt …«
    Joseph schaute Dafydd mit seinen ödematös verquollenen Augen ins Gesicht. »Na, meiner Meinung nach müssen Sie zum Beispiel seinen Jungen in Black River gesehen haben. Sicher erinnern Sie sich an die fruchtlose Reise, auf der Sie beide gewesen sind.«
    Dafydd war verdutzt. »Ich erinnere mich an keinen Jungen.«
    »Natürlich tun Sie das.« Joseph schenkte seinen Worten offenbar keinen Glauben. »Er hatte mit irgendeiner Frau ein Kind.«
    »Bedaure, aber davon weiß ich nichts.«
    »Ach, hören Sie auf. Das war doch der Grund, warum Sie hingefahren sind. Er hatte da oben eine Frau.«
    »Nein, wir sind hingefahren, um einen alten Freund von ihm zu besuchen«, sagte Dafydd wahrheitsgemäß. Es war geradezu lächerlich. Bear hatte damals fünfundachtzig Jahre auf dem Buckel gehabt, und die Zeiten, in denen er »überall in der Gegend seinen Samen verstreut«

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