Zeit der Eisblueten
Ebene musste er sich gewünscht haben, eine gewisse Verwundbarkeit bei Sheila zu finden und den wahren Menschen hinter der Fassade zu entdecken. Aber er behielt solche Gedanken für sich. Er wollte lediglich ein gutes Arbeitsverhältnis zu dieser Frau haben.
Und da war sie nun, zum ersten Mal wirklich preisgegeben. Sie befand sich im Wortsinne in seinen Händen, und dies war möglicherweise die Gelegenheit für ihn, ein gewisses Maß an Frieden zwischen ihnen herzustellen.
»Sheila, wie konnte es geschehen, dass du nichts gemerkt hast?«, fragte er vorsichtig.
»Wie ich dir schon mitgeteilt habe, hatte ich zwei absolut normale Perioden und keinerlei Symptome«, antwortete sie. »Ich meine, ich bin noch nie schwanger gewesen und hätte es deshalb vermutlich ohnehin nicht sofort gemerkt.«
»Und was hat dich dann zu der Annahme veranlasst, dass du’s bist?«
Sheila verdrehte in der für sie typischen beleidigenden Art die Augen. »Tja, irgendwann muss man’s wohl merken. In meinem Bauch wächst ein großer dicker Klumpen.«
»Es ist alles andere als ein großer dicker Klumpen, aber es besteht kein Zweifel, was es ist«, erwiderte er. »Du bist mindestens im dritten Monat, vielleicht auch schon weiter.«
»Scheiße!« Sheila hielt sich eine Hand vors Gesicht, woraufhin Dafydd ihr ein Bündel Papiertaschentücher in die andere drückte. Er trat zurück und zog den Vorhang um den Untersuchungstisch zu. Während er auf seinem Stuhl auf sie wartete, überschlugen sich seine Gedanken. Drei Monate … sie musste um die Weihnachtszeit empfangen haben. Sie war fruchtbar und verhütete offenbar nicht … Er erschauderte bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, wenn sie ihn herumgekriegt hätte.
Er blickte aus dem Fenster. Draußen war es dunkel. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er um diese Zeit nicht mit ihr allein sein sollte. Dabei war es erst kurz nach sieben. Noch immer herrschte Winter. Er hatte erwartet, dass es jetzt im späten März nicht mehr schneien würde, aber da waren sie wieder: große, schwere Schneefocken, die vom Himmel schwebten und sanft auf der Fensterbank landeten.
Sheila brauchte lange, um sich hinter dem Vorhang wieder anzuziehen, und als sie schließlich auftauchte, wirkte sie erschüttert.
»Setz dich hin und lass mich wissen, wie ich dir helfen kann«, sagte er sanft.
Sheila nahm ihm gegenüber Platz. Sie hatte ihre Schwesternkleidung abgelegt und trug einen grünen Minirock aus Wildleder, der weder zu der Situation noch zum Wetter passte.
»Du kannst mir helfen, Dafydd. Wir können es jetzt machen.«
Verwirrt fragte er: »Was denn?«
»Einen Abbruch.« Sheila schaute ihm fest in die Augen. »Du kannst das doch für mich tun, nicht?«
Dafydd nahm alle Kraft zusammen. Aus diesem Grund war sie zu ihm gekommen. Aber sie wusste, dass er prinzipiell keine Abtreibungen vornahm. Weshalb also wandte sie sich an ihn? Er befürwortete das Recht auf Abtreibung, aber er weigerte sich, selbst solch einen Eingriff vorzunehmen. Er hatte ihn nur zweimal in seiner Laufbahn, nämlich als Assistenzarzt, durchgeführt. Ohne es sich erklären zu können, war er beide Male anschließend sehr aufgewühlt gewesen und hatte unter Alpträumen gelitten. Sheila hatte viele Male versucht, ihn wegen dieser »Schwäche« zur Rede zu stellen und ihm klarzumachen, dass in Moose Creek Abbrüche üblicher seien als Geburten.
»Ich mach das nicht, wie du weißt. Aber Hogg und Ian tun’s. Warum sprichst du nicht mit einem der beiden?«
»Unmöglich«, beschied sie ihn. »Ich will auf keinen Fall, dass einer von ihnen da reingezogen wird. Du bist der Durchreisende, und du kannst den Mund halten, soweit ich das mitbekommen habe.«
»Sheila, es ist kein Problem, das anderswo durchführen zu lassen. Du kannst nach Yellowknife fliegen und einen Tag später zurückkommen. Ich rufe sie morgen früh an, wenn du das möchtest.«
»Nein, das ist zu nahe. Sie wissen alles über uns hier oben.«
»Gut, dann eben Edmonton. Das ist noch besser.«
Sheila schien ihm kaum zuzuhören. Mit glasigen Augen saß sie gedankenversunken da. Sie hielt die Papiertücher noch immer in der Hand und zerzupfte sie in kleine Fetzen, die sie anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her rollte. Nach einer Weile sagte sie, als hätte sie seine Worte gar nicht wahrgenommen: »Ich meine es ernst. Wir könnten es jetzt machen. Hogg hat Bereitschaft, aber es gibt nichts zu tun. Niemand ist im OP. Janie hat mit Phil
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