Zeit der Eisblueten
Finger. »Einer von der alten Sorte. Ein echter.«
»Du meinst also, dass ich Rat brauche, ja?« Dafydd lachte. »Woher kennst du diesen Mann?«
»Vor vielen Jahren, lange bevor du geboren wurdest, hat er ein wenig Zeit in Moose Creek verbracht. Er kam hierher, nachdem er von seinen eigenen Leuten verbannt worden war.«
»Was hatte er getan?«
Sleeping Bears breites Grinsen verschwand sofort, und er sah plötzlich unvorstellbar alt und ernst aus. »Er war gebeten worden, ein Kind zu heilen. Das Kind war tödlich verletzt worden und wäre ohnehin gestorben, aber er gab sich die Schuld an seinem Tod. Dann steckten der Missionar und die Leute von der Regierung ihre Nasen rein und verboten den Schamanismus. Das Volk gehorchte, und die Älteren beschlossen, den Schamanen auszustoßen. Nach vielen Jahren vergaßen die Leute die Sache, und man ließ ihn auf sein Land zurückkehren.«
Dafydd spürte einen plötzlichen bitteren Schmerz in der Brust. Er hatte seinen Kummer wochenlang ängstlich verborgen. Zwar hatte er den kleinen Derek noch nicht einmal gekannt, aber das Schicksal des Jungen schien untrennbar mit seinem eigenen verknüpft zu sein. Sein spitzes Gesichtchen und seine forschenden Augen erschienen seit seinem Tod häufiger als je zuvor in Dafydds Träumen.
Er kämpfte gegen die Tränen an, die tief aus seiner Kehle aufzustiegen schienen. Er schluckte mehrfach, aber er konnte seine Trauer nicht unterdrücken. Dann schlug er die Hände vors Gesicht und atmete einige Male tief durch.
»Ich glaube, dass es verdammt gut für dich wäre, ihn zu treffen.« Sleeping Bear tätschelte Dafydds Knie mit seiner ledrigen Hand. »Und außerdem könnte ich die Gesellschaft gebrauchen.«
Das Tauwetter hatte ernsthaft begonnen. Überall rann, tropfte, spritzte und gurgelte Wasser. In der Region gab es so wenig Regen, dass die Gegend nicht viel weiter nördlich als Wüste bezeichnet wurde. Aber der angehäufte Winterschnee speiste noch immer Sturzbäche, welche die Keller überfluteten und zu schmutzigen, die Straßen hinabsprudelnden Flüssen anschwollen, die Kanäle zum Überlaufen brachten und den Boden durchweichten. Einige Nächte waren kalt genug, um das Ganze wieder gefrieren zu lassen. Zurück blieb eine spiegelglatte Oberfläche, die ein Chaos für Fußgänger und Fahrzeuge schuf. Trotzdem lag Optimismus in der Luft. Die Teenager konnten endlich wieder knappe Kleidung und leichte Schuhe tragen. Motorschlitten wurden weggestellt und leichte Motorräder herausgeholt, und Frauen planten die Bepflanzung ihrer nur für kurze Zeit nutzbaren Gemüsegärten.
Dafydds Vertrag mit dem Krankenhaus lief aus, und Hogg war zu der Auffassung gelangt, dass Dafydds Weggang ein großer Verlust für die Gemeinde sein würde. Das behauptete er jedenfalls, um Dafydd zum Bleiben zu bewegen.
»Ich weiß, dass Sie und Sheila nicht immer in allen Dingen übereinstimmen, aber ich bin sicher, dass die Meinungsverschiedenheiten im Laufe der Zeit beigelegt werden können«, sagte er. »Ich würde Sie gern bei einem vorzüglichen Gehalt zu einem ständigen Mitglied des Personals machen. Ein junger Mann wie Sie könnte eine große Zukunft in Moose Creek haben. Die Stadt wird wachsen. Die Zivilisation wird sich bis zu uns ausdehnen. Kommen Sie, David, ich meine Dafydd, denken Sie einmal darüber nach.«
Einen kurzen Moment lang hatte Dafydd geschwankt. Er wusste nicht, was ihn zu Hause erwartete, aber seine Mutter war schwerkrank und zunehmend bekümmert über seine Abwesenheit. Auch wollte er seine chirurgische Ausbildung zum Einsatz bringen, die er in Moose Creek trotz der haarsträubenden Unfälle, die manchmal seine Fähigkeiten forderten, kaum ausbauen konnte. Die Zivilisation würde noch lange auf sich warten lassen, wenn sie sich denn überhaupt bis in diesen fernen Ort vorschob. Aber vor allem musste er sich der Situation stellen, die er hinter sich gelassen hatte. Er konnte nicht ewig davor fliehen.
Vielleicht war er in diesen ungewöhnlichen und anstrengenden zehn Monaten ein wenig als Mensch und als Mann gewachsen, aber als Arzt fürchtete er sich noch immer vor sich selbst. Er begriff, dass er sich seinen Alpträumen so schnell wie möglich stellen musste. Und so sehr er sich auch sträubte, es einzugestehen – Sheila war ebenfalls ein Grund, den Posten aufzugeben. Er konnte sich eine harmonische Zusammenarbeit mit ihr nicht vorstellen, und für Hogg stand Sheila auf gar keinen Fall zur Disposition. – Er würde niemals zulassen,
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