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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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der Saison. Das Tauwetter hatte sich beschleunigt. Schon in wenigen Tagen würde die Straße unpassierbar werden, und Moose Creek würde von der zivilisierten Welt abgeschnitten sein, eine abgeschnittene Insel der Ausdauer.
    In Yellowknife charterten sie ein kleines Flugzeug, das sie nach Black River am Ufer des Nordpolarmeers brachte. Das winzige Dörfchen selbst war hässlich und bestand hauptsächlich aus seelenlosen kommunalen Fertighäusern. Vom Flugzeug aus machte es den Eindruck, als habe Gott höchstpersönlich eine Handvoll Würfel absichtslos über das Eis geworfen. Das einzige Gebäude, das ein wenig Schönheit ausstrahlte, war eine weiß gestrichene und offenbar alte, mit Schindeln gedeckte Kirche.
    Die Gegend jedoch bot einen atemberaubenden Anblick. Am Ufer aufgereihte Eisblöcke und ferne, zerklüftete Eisberge schimmerten in der klaren Luft. Im Landesinneren schien sich die Tundra – fach und kahl – unendlich weit auszubreiten. Sie wies schwarze Flecke auf, wo der Schnee abgeschmolzen war. In der Ferne umrahmten weiße Berge den Horizont.
    Sie sahen, wie eine winzige Gestalt zum Flugplatz hastete, und als die Maschine landete, wartete sie schon. Die beiden alten Männer begrüßten einander mit ausgiebigem Schulterklopfen und Händeschütteln. Angutitaq war ebenso alt wie Bear, wenn nicht sogar noch älter. Geschrumpft und o-beinig, hatte er ein von so vielen Falten durchzogenes Gesicht, dass sich seine Züge tief hinter ihnen verbargen. Wenn er lachte, teilten sich die Falten und Furchen, und ein breites Grinsen entblößte zwei restliche Zähne, die vom Alter und vom Tabak gelb gefärbt waren.
    Sein Haus lag am Rand der Siedlung. Sie legten die kurze Entfernung vom Flugplatz zu Fuß zurück. Die Tochter erwartete sie am Haus, und Dafydd war überrascht, wie jung sie wirkte, das Alter ihres Vaters bedacht.
    »Was ist mit seiner Frau? Wo ist sie?«, fragte Dafydd leise, an Bear gewandt.
    »Sie ist an Grippe gestorben, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Erwähne sie nicht. Es ist eine endlose Geschichte. Die Grippe hat auch die meisten seiner Freunde dahingerafft. Es ist ein äußerst wunder Punkt.«
    Vater und Tochter sprachen in ihrer Eskimosprache miteinander. Dafydd war erstaunt, als sich Bear ihnen plötzlich anschloss; er klang sehr fließend in der geheimnisvollen Sprache. Dafydd hatte nicht gewusst, dass Bear Inuktitut beherrschte. Bear korrigierte ihn, die Sprache der Kupfer-Inuit sei Inuinnaqtun. »Ich bin rumgekommen.« Bear blähte seine magere Brust auf. »Ich war nicht immer in Moose Creek eingelocht.«
    Den ersten Abend verbrachten sie in dem winzigen Wohnzimmer mit Rauchen, Teetrinken und Essen. Der Raum war mit vielen Stühlen in unterschiedlichen Verfallsstadien möbliert, außerdem gab es ein Sofa und in der Mitte einen kleinen Tisch. Dieser Tisch schien der zentrale Treffpunkt des Dorfes zu sein. Ständig strömten Dorfbewohner herbei, um einen Blick auf die Besucher zu werfen und um sich am Gespräch zu beteiligen. Einige der Älteren blieben bis tief in die Nacht. Sie unterhielten sich lebhaft und wechselten dabei zwischen Inuinnaqtun und, Dafydd zu Gefallen, einem merkwürdigen archaischen Englisch. Das Essen – Schüsseln mit Salznudeln und Seehundfleischstücken – sowie der Tee wurden von der Tochter serviert.
    Angutitaq schien höchst erfreut über seine Gäste und die Faszination zu sein, die sie bei seinen Nachbarn auslösten. Er erzählte Geschichten und rauchte dabei ununterbrochen eine geborstene alte Pfeife. Ungeachtet dessen, dass er aussah wie etwas, das jahrhundertelang in einem Keller vor sich hin getrocknet hatte, war sein Geist scharf und sein Humor eigenwillig. Er sprach schnell. Seine Pfeife verwendete er dabei als Zeigestock und schwenkte sie, um seine Bemerkungen zu unterstreichen. Jede Äußerung wurde von einem komischen Lachen begleitet. Dafydd spürte, dass Angutitaq bereits wusste, warum Bear ihn eingeladen hatte – von seiner Rolle als nützlicher Begleiter abgesehen.
    Uyarasuq, die Tochter, umschwebte die alten Männer und Frauen wie ein Schatten, füllte ihre Blechbecher mit Tee und schürte den Holzofen. Gelegentlich ließ sie ein perlendes, glockenartiges Lachen erklingen, meist über eine Bemerkung ihres Vaters. Dafydd nahm Bear zur Seite und fragte ihn nach dem ungefähren Alter der Frau, aber Bear hatte ein vages Zeitverständnis.
    »Wo ist ihre Familie? Hat sie nicht einen Mann?«
    »Psst«, flüsterte Bear, »erwähne ihren Mann

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