Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
nirgends zu sehen, Gott sei Dank, und es trieben sich anscheinend auch keine Geistersucher mit Glöckchen und Trillerpfeifen herum. Die riesigen Bagger und Kräne schliefen mit ausgestreckten Hälsen.
    Ross stieg über die Absperrung und ging bis zur Mitte des Grundstücks, wo das Haus noch teilweise stand, weil es sich wieder zusammengefügt hatte, nachdem es von Rod van Vleet abgerissen worden war. Der Plan, genau an der Stelle das Einkaufszentrum zu errichten, war verworfen worden. Gut hundert Meter weiter links hatten Bagger angefangen, den gefrorenen Boden auszuheben, um das Betonfundament zu gießen. Ross atmete tief ein: Hier hatte Lia einst am Abendbrottisch gesessen oder morgens eine Tasse Kaffee getrunken. Hier hatte sie an trägen Sonntagnachmittagen ein Schläfchen gehalten. Sie hatte Spencer Pikes Hand auf ihren Bauch gelegt und ihm gesagt, dass sie ein Kind erwartete.
    »Lia!« Ihr Name drang beschwörend von seinen Lippen.
    Er blieb einen Augenblick stehen. Auf dem alten Pike-Grundstück herrschte ungewöhnliche Stille, es regte sich kein Hauch von Leben.
    Ross ging leise zum Wagen zurück. Sie war nicht da, sonst hätte er es gespürt.

    Meredith hätte sich keinen schöneren Tag wünschen können – fünfundzwanzig Grad, strahlend blauer Himmel und das Einkaufzentrum nicht annähernd so voll, wie sie es im Monat August befürchtet hatte. Hinzu kam, dass ihre Tochter keine Medikamente mehr nahm. Es gab also reichlich Grund zum Feiern.
    Sie gingen langsam, weil Ruby bei ihnen war, und auch wenn sie zu stolz war, über ihre schmerzenden Hüften zu klagen, war Meredith doch nicht entgangen, dass sie bei jedem Schritt das Gesicht leicht verzog. Sie hatten sich im Zoo die neuen Riesenpandas angesehen, hatten im Naturgeschichtlichen Museum den Hope-Diamanten bestaunt und im Luft- und Raumfahrtmuseum nach den Sternen gegriffen. Jetzt waren sie auf dem Weg zum Parkhaus, jede ein Softeis in der Hand.
    »Ich bin ja davon überzeugt«, sagte Meredith, »dass die Straßen im Himmel mit Schokolade gepflastert sind.«
    »Was bedeuten würde, dass es da oben nicht heiß und schwül sein kann«, bemerkte Ruby. »Als Urlaubsziel nicht zu verachten.«
    »Mom?«, meldete Lucy sich zu Wort. Lucy stellte ihnen schon den ganzen Tag Fragen – zum Beispiel wie Dinosaurier aufs Klo gingen oder wo denn der Präsident blieb, wenn die ganzen Touristen das Weiße Haus besichtigten. »Wieso hast du nie geheiratet?«
    Meredith blieb abrupt stehen. Sie hatte Lucy in ihrem Labor aufgeklärt, ihr lebende Spermien und ein richtiges Ei und dann den Embryo gezeigt, aus dem ein menschlicher Fetus wurde. Aus wissenschaftlicher Sicht hatte Liebe nichts mit Fortpflanzung zu tun. Ein Vater war lediglich ein Samenspender, und diese Sichtweise war Meredith nur recht.
    Ruby warf Meredith über Lucys Kopf hinweg einen vielsagenden Blick zu.
    »Na, ich musste doch nicht heiraten. Ich hatte ja dich .«
    Lucy verdrehte die Augen. »Mom, ein Ehemann ist doch nicht nur dafür da, ein Baby zu machen. Vielleicht wärst du ja öfter zu Hause, wenn du einen hättest.«
    »Du weißt genau, warum ich so viel arbeite …«
    Lucy wandte sich um. »Es ist meinetwegen, nicht? Keiner wollte eine Frau heiraten, die schon ein Kind hat.«
    »Lucy, nein. He.« Meredith fasste Lucy am Arm und hielt sie fest. »Schätzchen«, sagte sie, und plötzlich kreischte Lucy los.
    »Nicht auf ihn draufsetzen!« Sie wich zurück, als Passanten sie anblickten. »Mommy, was ist mit dem Jungen da?«
    Sie zeigte auf eine Stelle. Aber da war kein Junge. »Lucy, was hast du?«
    Ihre Augen waren weit aufgerissen und wild. »Der Junge, der da hinten sitzt, mit den Gefängnissachen an, wie sie sie im Zeichentrickfilm anhaben. Und die Frau ohne Haare und die anderen Kinder, wie Skelette, aber sie bewegen sich trotzdem. Siehst du sie denn nicht?«
    Ein Mann sprach Meredith an. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Danke, alles in Ordnung«, sagte sie barsch. »Hol tief Luft, Lucy, und sag mir, was du siehst.«
    Der Mann ließ sich nicht abwimmeln. »Ich hole schnell Hilfe«, sagte er und verschwand. Meredith blickte ihm nach und sah, wie er in das Gebäude vor ihnen lief: das Holocaust-Museum.
    »Das sind die, die zurückgeblieben sind«, wimmerte Lucy.
    Der Gerichtsbeschluss zur Exhumierung sterblicher Überreste auf dem Pike-Grundstück brannte wie Feuer in Elis Tasche, doch er ließ ihn, wo er war, wie ein Stück glühende Kohle dicht am Herzen, eine Erinnerung daran, was er vorhatte und

Weitere Kostenlose Bücher