Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
dastand.
»Sie haben das Mittagessen verpasst«, sagte sie. »Ich dachte, vielleicht hätten Sie die Brote gern zum Nachmittagstee.«
»Das ist nett von Ihnen. Danke.«
Er nahm ihr das Tablett ab und sagte: »Kommen Sie doch bitte
herein. Sie leben schon seit vielen Jahren hier. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Worüber?«, fragte sie und hielt immer noch den aufgespannten Schirm in der Hand.
»Über Beatrice Ellison und ihre Tochter Emma Mason.«
Sie klappte ihren Regenschirm widerstrebend zusammen, stellte ihn neben die Tür und schloss sie dann hinter sich.
»Ich weiß nur, was geredet wird. Das sollten Sie von vornherein wissen. Ich habe keinen freundschaftlichen Umgang mit Mrs. Ellison gepflegt, seit Beatrice fortgegangen ist. Ich fand, sie hätte das Mädchen ruhig eine Zeit lang Malerei studieren lassen sollen, das wäre das Mindeste gewesen, was ihre Mutter für sie hätte tun können. Dann hätte sie nämlich schnell gesehen, ob sie genügend Begeisterung dafür aufbringt, die Grundlagen zu erlernen. Das muss doch etwas ganz anderes sein, als zum Vergnügen zu malen.«
»Wie ist Beatrice in London zurechtgekommen?«
»Glänzend, soweit wir wussten. Man brauchte nur Mrs. Ellison zu fragen, wenn man überschwängliche Berichte hören wollte.«
»Wer hat ihre Tochter unterrichtet? Ist Ihnen der Name des Lehrers zufällig bekannt?«
»Falls ich den Namen jemals gehört habe, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Verstehen Sie, Mrs. Ellison stellt man keine Fragen. Sie erzählt einem das, was einen ihrer Meinung nach etwas angeht, und kein Wort mehr. Aber ich hatte den Eindruck, sie hat es genossen, aller Welt zu berichten, wie gut sich Beatrice gemacht hat. Obwohl sie anfänglich dagegen gewesen war.«
»Und dann ist Beatrice mit ihrem Kind nach Hause gekommen.«
»Ja, es war das erste und einzige Mal, dass sie zurückgekommen ist. Es gab einige Leute, die schrecklich gehässig waren und behauptet haben, Beatrice sei zu berühmt geworden, um sich
überhaupt noch mit Dudlington abzugeben. Und natürlich gab es auch andere, die behauptet haben, sie sei nur deshalb nicht zurückgekommen, weil sie außer dem kleinen Mädchen für all ihre Jahre in London nichts vorzuweisen hatte.«
»Und dann ist Emma fortgegangen. Was wurde damals geredet?«
»Natürlich hieß es, sie sei nach London gegangen, um ihre Mutter zu suchen. Wir waren sicher, dass Mrs. Ellison ihr schleunigst folgen und sie hierher zurückbringen würde. Das heißt, falls es der Wahrheit entsprach, dass Beatrice gescheitert war. Und dann kamen die Gerüchte auf, Constable Hensley hätte etwas mit Emmas Verschwinden zu tun.«
»Welcher Art waren diese Gerüchte?«
»Es hieß, da er sich in London auskannte, hätte er Emma geholfen, ihrer Großmutter zu entkommen. Irgendwie hätte er etwas damit zu tun. Ich kann Ihnen nicht sagen, wann der Verdacht aufgekommen ist, er hätte mehr mit ihrem Verschwinden zu tun als sich gehörte. Er hätte einen Preis für seine Hilfe verlangt, und als Emma es mit der Angst zu tun bekam, hätte er sie sich vom Hals geschafft, um zu verhindern, dass sie es ihrer Großmutter erzählt. Mrs. Ellison ist mit der Familie Harkness verwandt. Deshalb hütet sich jeder vor ihr, sogar der Constable. Ich weiß nicht genau, was sie unternehmen könnte - aber ich stelle mir vor, wenn sie eine Ermittlung wollte, gäbe es jemanden, der ihr helfen würde.«
»Glauben Sie, Mrs. Ellison weiß, was geredet wird?«
»Und was glauben Sie wohl, wer die Kühnheit besäße, ihr das zu sagen?«
Das war ein gutes Argument.
»Danke, Mrs. Melford. Sie haben mir sehr geholfen.« Er begann sie zu durchschauen, ihre forsche Art, hinter der sich aber die Furcht verbarg, wieder verletzt zu werden, und andererseits ihre Freundlichkeit, die sie daran denken ließ, ihm belegte Brote zum Tee zu bringen. Und sie war ihm recht sympathisch. Er
fand, sie hätte mehr Glück verdient, als ihr bisher vergönnt gewesen war.
Sie nickte und wandte sich ab, um zu gehen, doch dann fragte sie: »Wer war die Frau, die gestern bei Ihnen war? Eine Verwandte?«
Die Gerüchteküche … Sie hatte ihm die Sandwichs doch nicht aus reiner Freundlichkeit gebracht. Oder zumindest nicht nur.
»Wir haben gemeinsame Freunde«, sagte er leichthin.
»Sie hat sich so geschickt dabei angestellt, dem Doktor zur Hand zu gehen«, antwortete Mrs. Melford und nahm ihren Regenschirm. »Das hat mich überrascht.«
Als sie gegangen war, setzte sich
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