Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
ihm herauszuholen?
Rutledge setzte sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches und zog seine Serviette aus einem Porzellanring, der mit einem fröhlichen Muster aus blauen Veilchen bemalt war.
»Wir haben keine Neuigkeiten über Constable Hensleys Zustand erfahren. War der operative Eingriff erfolgreich?«, fragte Barbara Melford, als sie die Suppe brachte, Karottencreme mit Lauch.
»Anscheinend, aber er hatte ziemlich große Schmerzen, als ich mit ihm gesprochen habe«, antwortete Rutledge, der seine Worte mit Bedacht wählte. »Es war mit keinem Wort die Rede davon, wann er entlassen wird.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, mit einem Pfeil im Rücken so weit transportiert zu werden«, bemerkte sie und zog sich wieder
in die Küche zurück, um ihn allein im Esszimmer zurückzulassen. Der Raum war hübsch eingerichtet, Brokatvorhänge mit einem Blumenmuster, und unter einem Tisch, an dem acht Personen Platz gefunden hätten, ein englischer Teppich. Rutledge fragte sich unwillkürlich, ob Mrs. Melford früher, als ihr Mann noch am Leben war, jemals Gäste hier bewirtet hatte.
Er war müde, und die Atmosphäre während der Mahlzeit war reichlich angespannt und zermürbend, da seine Gastgeberin jeden Gang schweigend servierte und gleich wieder verschwand, doch durch den Spalt in der Tür, die zur Küche führte, konnte er ihre Blicke auf sich fühlen.
Einmal nahm er einen Anlauf, sie nach den Geschehnissen zu fragen, die sich hier abgespielt hatten, doch sie antwortete ihm schroff: »Von meinen Fenstern aus kann ich das Wäldchen Gott sei Dank nicht sehen. Da müssen Sie jemanden fragen, der von seinem Haus aus einen Blick darauf hat.«
Zum Nachtisch gab es Pudding, besser als viele andere, die er gegessen hatte, doch er trank seinen Tee zügig. Sowie er die erste Tasse geleert hatte, faltete er seine Serviette zusammen und rief auf dem Weg zur Tür Barbara Melford, um sich bei ihr zu bedanken.
Daraufhin kam sie, um mit ihm zu reden, und folgte ihm bis zur Haustür. Sie wies ihn auf ein silbernes Tablett auf dem kleinen Tischchen am Fuß der Treppe hin. »Dort finden Sie jeden Morgen Ihre Rechnung. Das Frühstück serviere ich um Punkt acht.«
»Ich werde da sein.«
Er trat in die kalte Nachtluft hinaus, die nach der Wärme im Esszimmer besonders deutlich zu fühlen war. Hensleys Haus war immer noch spürbar ausgekühlt, und das Feuer strengte sich an, mehr zu leisten, als nur das Wohnzimmer zu wärmen. Er machte sich auf die Suche nach dem Wäscheschrank und fand nach längerem Herumstöbern sowohl saubere Laken und Kissenbezüge als auch zwei oder drei relativ neue Decken.
Während er das Bett bezog, dachte er über sein Gespräch mit Hensley nach, der zwar noch starke Schmerzen hatte, aber doch schon auf der Hut gewesen war und seine Fragen mit großer Wachsamkeit beantwortet hatte. Weshalb sollte der Constable, obwohl man ihn dort gefunden hatte, bestreiten, dass er in dem Wäldchen gewesen war? Zum einen wäre es sehr schwierig gewesen, einen großen, kräftigen Mann mit einem Pfeil im Rücken von der Stelle zu bewegen, und außerdem wären Spuren zurückgeblieben, wenn man ihn dorthin geschleift hätte. Damit würde er sich morgen genauer befassen müssen.
»Und wo ist das Fahrrad, mit dem er unterwegs war?«, fragte Hamish.
»Das finde ich morgen heraus. Es muss jemanden geben, der mir das sagen kann. Der Arzt zum Beispiel.«
»Ich vermute, dass diese Witwe sich nicht gerade viel aus dem Constable macht. Sie muss in großen Geldnöten sein, wenn sie ihn bekocht.«
»Oder er erzählt ihr bereitwillig mehr, als er sollte, über die Dinge, die sich im Dorf abspielen. Mit Schmeicheleien kann man einen Mann zum Prahlen bewegen.«
Es war schon spät, als Rutledge endlich ins Bett ging. Das Haus erschien ihm fremd und abweisend. Und einen Haustürschlüssel hatte er bisher nicht gefunden. Dennoch hatte Hensley das Wohnzimmer als Büro benutzt.
»Das bedeutet«, warf Hamish ein, der seinen Gedanken aufgriff, »dass hier keine Geheimnisse zu finden sind.«
Rutledge war weit vor acht Uhr auf und angezogen und nahm sich bereits die wenigen Akten in einer Schachtel im Wohnzimmer vor. Es schien, als hätte Dudlington bisher mit Verbrechen keinerlei Erfahrung gemacht. Der Constable hatte jede Beschwerde mit peinlicher Genauigkeit festgehalten. Ein vermisster Hund, der gefunden und seinem Besitzer wieder übergeben worden war. Ein Streit über die Deckrechte eines Schafbocks.
Geringfügige Ladendiebstähle
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