Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
mir versprochen, nur fünf Minuten zu bleiben.«
»Ja, ich wollte gerade gehen. Sagen Sie, wissen Sie zufällig, was aus dem Pfeil geworden ist, der aus Hensleys Rücken entfernt wurde?«
»Danach müssen Sie sich bei der Operationsschwester erkundigen.«
Aber die Operationsschwester sagte, als Rutledge sie endlich dingfest gemacht hatte: »Sie haben den Schaft entfernt, bevor sie ihn hierhergebracht haben. Wenn Sie wissen wollen, was daraus geworden ist, müssen Sie Dr. Middleton fragen. Die Pfeilspitze war eine ganz gewöhnliche Metallspitze. Chief Inspector Kelmore hat sie mitgenommen, aber ich bezweifle, dass sie ihm viel genutzt hat. Wir haben sie ziemlich übel zugerichtet, als wir sie zwischen den Rippen herausgezogen haben. Constable Hensley hat großes Glück gehabt. Seine Verletzung hätte viel schlimmer sein können. Wenn der Pfeil nicht zwischen den Rippen stecken geblieben wäre, dann wäre er jetzt tot.«
Rutledge machte sich auf die Suche nach Chief Inspector Kelmore und fand ihn in seinem Büro, einem stickigen kleinen Raum, der nach Pfeifenrauch stank. Kelmore war ein ergrauter Mann von Ende vierzig, mit gelblich verfärbten Zähnen; und Ohren, die zu groß für seinen Kopf waren.
Der Chief Inspector drückte Rutledge die Hand und sagte: »Ich wollte gerade gehen. Meine Frau ist krank, und ich nehme mir für den Rest des Tages frei. Man hat Sie wegen Hensley hergeschickt, nicht wahr? Nach Angaben des Chirurgen kann er von Glück sagen, dass er noch am Leben ist.« Er begann, in seiner Schreibtischschublade herumzuwühlen, doch dann griff er nach einer Schachtel, die auf dem Boden stand. »Hier ist das, was von dem Pfeil noch übrig ist. Ich nehme an, deshalb sind Sie hergekommen.« Er reichte Rutledge den zerbrochenen Schaft und die verstümmelte Metallspitze. »Daran ist nichts weiter ungewöhnlich, abgesehen davon, wo man den Pfeil gefunden hat - im Rücken eines Constable.«
Rutledge sah sich erst den hölzernen Schaft gründlich an, dann die Spitze. »Ich würde meinen, wie tief der Pfeil eindringen konnte, sollte davon abhängen, aus welcher Entfernung er abgeschossen wurde.«
»Ja, der Ansicht bin ich auch. Das meinte ich damit, dass er
noch mal Glück gehabt hat. Ich wage zu behaupten, wer auch immer diesen Pfeil abgeschossen hat, fürchtet sich jetzt davor, sich freiwillig zu stellen und sich zu seinem Leichtsinn zu bekennen.« Er streckte seine Hand nach der Pfeilspitze aus.
»Darauf führen Sie es also zurück? Auf Leichtsinn?«, fragte Rutledge und gab ihm die Spitze.
»Was sollte ich denn sonst dahinter vermuten? Wie Sie selbst sehen werden, ist Dudlington nicht gerade eine Brutstätte für Mörder. Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb jemand Hensley übel gewollt haben sollte. Er scheint doch ein recht anständiger Kerl zu sein. Mir liegen jedenfalls keine Klagen über ihn vor. Und es hat sich auch niemand bei Inspector Cain beschwert, der die Aufsicht über Dudlington und zwei andere Weiler hat, Fairfield und Letherington. Letherington, nördlich von Dudlington, ist die größte von den drei Ortschaften. Fairfield liegt etwas weiter im Osten.« Er deutete auf eine Landkarte der Grafschaft, die an der Wand hing.
»Bei Cain schaue ich morgen vorbei. Gab es in diesem Wäldchen - wie heißt es schnell noch mal? Frith’s Wood? - irgendwelche Hinweise darauf, dass Hensley dorthin getragen oder geschleift wurde?«
»Ich glaube nicht, dass jemand darauf geachtet hat. Behauptet er, er hätte sich nicht in dem Wäldchen aufgehalten, als auf ihn geschossen wurde? Das ist merkwürdig.«
»Er sagt, er kann sich noch daran erinnern, mit seinem Fahrrad auf der Hauptstraße gefahren zu sein. Danach weiß er erst wieder, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus war. Er erinnert sich nicht, wie er in das Wäldchen gelangt ist. Oder wann auf ihn geschossen wurde.«
»Es heißt, plötzliche und schwere Verletzungen könnten im Verstand einen Schock auslösen, der bewirkt, dass Ereignisse, die dem Unfall direkt vorausgegangen sind, ausgelöscht werden. Es kann ja sein, dass die Erinnerung im Verlauf der Heilung zurückkehrt. Ich bin nicht sicher, warum der Yard in diese
Angelegenheit hineingezogen worden ist, bevor wir eine Chance hatten, uns selbst damit zu befassen. Aber so ist es nun mal. Nichts für ungut.«
»Ich bin nicht gekränkt. Vermutlich war London in Sorge, weil Hensley von dort gekommen ist. Und weil die Möglichkeit besteht, dass jemand nachtragend ist, bei dessen
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