Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
zu leben.« Sie räusperte sich, als seien die Erinnerungen noch zu frisch. »Ja, wir waren gerade bei den Briefen an und von Beatrice Mason. Ich kann mich noch gut an sie erinnern. Ein so hübsches Mädchen. Und so begabt. Ich habe ihr viel Glück gewünscht, als sie nach London gegangen ist, und ich war immer der Meinung, Mrs. Ellison hätte sie zu streng behandelt. Dieses Ultimatum, das sie ihr gestellt hat. Wenn du fortgehst, nehme
ich dich nicht wieder bei mir auf. Das hat Beatrice meiner älteren Schwester erzählt. Sie hat mich vor die Entscheidung gestellt, hat sie gesagt. Ich muss meine Wahl treffen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Mutter ihr einziges Kind so streng behandelt! Aber es hat bittere Folgen für sie gehabt, nicht wahr?«
»Warum war Mrs. Ellison so unnachgiebig, als Beatrice fortgehen wollte? Ging es um Geld?«
»Nein, ich glaube, Mrs. Ellison nimmt es mit den guten Sitten ganz genau, und der Gedanke, dass ihre Tochter mit Künstlern und Bohemiens und Aktmodellen verkehren könnte, war ihr einfach unerträglich. Mit so etwas gaben sich anständige Mädchen ihrer Meinung nach gar nicht erst ab.«
Mrs. Simpson mischte sich jetzt unaufgefordert in das Gespräch ein. »Beatrice war wie ihr Vater. Er hätte sie persönlich nach London begleitet, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Um ihr zu zeigen, was für ein Leben sie dort zu erwarten hatte und dass es nicht das zauberhafte Abenteuer werden würde, das sie sich erträumte. Aber ihre Mutter hat schlicht und einfach ein Machtwort gesprochen, und das hatte auf Beatrice die Wirkung, als würde man vor den Augen eines Stiers ein rotes Tuch schwenken.«
Rutledge drehte sich um, damit er beide Frauen sehen konnte. »Was für ein Typ war Mason, der Mann, den Beatrice geheiratet hat? Hat Mrs. Ellison ihn akzeptiert?«
»Ich bezweifle, dass sie ihm jemals begegnet ist«, bemerkte Mrs. Simpson. »Er ist schon gestorben, als Emma erst drei oder vier Jahre alt war. Daraufhin hat Beatrice sie nach Hause gebracht, damit ihre Großmutter für sie sorgt. Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass er den Wunsch verspürt hat, nach Dudlington zu kommen. Beatrice hat ihm wahrscheinlich erzählt, was für eine Hexe ihre Mutter ist.«
»Womit hat er sich seinen Lebensunterhalt verdient? Wissen Sie das?«
»Es ist anzunehmen, dass er ebenfalls Künstler war«, sagte
Mrs. Arundel. »Ich habe es nie erfahren, nur, dass er arm wie eine Kirchenmaus war und der armen Beatrice nichts hinterlassen hat, wovon sie sich selbst oder das Baby ernähren konnte.«
»Das hat Ihnen Mrs. Ellison erzählt?«
»Gütiger Himmel, nein!«, sagte Mrs. Simpson lachend. »Wir haben es von der Frau gehört, die manchmal bei ihr sauber gemacht hat. Betsy Timmons. Ich würde ihr zutrauen, dass sie an Schlüssellöchern lauscht …«
Die Ladentür ging auf, und eine Frau mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau kam herein. Mrs. Simpson wandte sich ab, um sie zu begrüßen.
Mrs. Arundel sagte mit gedämpfter Stimme: »Ich habe gehört, Mr. Mason stammte aus einer sehr guten Familie, die ihn verstoßen hatte, ganz ähnlich wie Mrs. Ellison, die nichts mehr von Beatrice wissen wollte. Als er noch am Leben war und seine Bilder verkauft hat, konnten sie recht luxuriös davon leben. Aber nach seinem Tod war keiner mehr da, der diese grandiosen Summen nach Hause brachte.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Ich glaube, es war Grace Letteridge. Und die hatte es höchstwahrscheinlich von Emma gehört.«
Hamish sagte verdrossen: »Ja, klar, das Märchen, das die Oma in Umlauf setzt. Um den guten Ruf ihrer Tochter zu bewahren.«
Es sähe Mrs. Ellison ähnlich, dachte Rutledge, die Fehltritte ihrer Familie in ein möglichst vorteilhaftes Licht zu rücken.
Die Tür ging wieder auf, und ein Mann kam herein, atemlos und aufgeregt. Er sah sich schnell im Laden um, und sein Blick heftete sich auf Rutledge.
»Ich suche Inspector Rutledge.«
»Ich bin Rutledge. Was ist passiert?«
»Dr. Middleton hat mir aufgetragen, Sie zu suchen. Der Pfarrer ist hingefallen. Ein schlimmer Sturz. Er - Dr. Middleton - sagt, es wäre das Beste, wenn Sie augenblicklich kommen könnten.«
Rutledge nickte der Postmeisterin zu und folgte dem Boten auf den Fersen zur Tür hinaus.
»Was ist Mr. Towson zugestoßen?«
»Er war auf dem Dachboden und hat dort etwas gesucht. Er hätte nicht allein hinaufsteigen sollen. Die Stufen sind schmal. Er ist danebengetreten und auf seine Hüfte gefallen. Dr. Middleton glaubt,
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