Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
schockierter und wütender wirken können. »Wie können Sie es wagen!«
»Sie waren selbst einmal jung …«
»Meine Enkelin war eine gottesfürchtige junge Dame. Dafür habe ich gesorgt. Verschwinden Sie aus meinem Haus!«
Er ging in dem Bewusstsein, dass er sie verärgert hatte und dass jede weitere Frage zwecklos gewesen wäre.
Mrs. Ellison hatte sich in ihrer eigenen behaglichen privaten Welt verschanzt, wo ihr niemand wehtun konnte. Sie rang darum, den Verlust ihres einzigen Kindes und ihres einzigen Enkelkindes zu verkraften, indem sie ihn verdrängte. Und sich weigerte einzusehen, dass sie mit ihrem ausgeprägten Sinn für Anstand und familiäre Pflichten beide vertrieben haben könnte. Künstler waren in ihren Augen nichtsnutzige Geschöpfe, mit denen es ein böses Ende nahm, und die Behauptung, Beatrice hätte ihr Los selbst gewählt, war nicht haltbar. Aber dieses mädchenhafte Schlafzimmer wartete noch auf die junge Emma, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in eine ganz andere Person verwandelt haben könnte, falls sie noch am Leben war. Härter vielleicht, desillusioniert mit Sicherheit und möglicherweise nicht mehr unschuldig.
Nachdem die Tür geschlossen war, wünschte er, er hätte sich nach dem Namen ihrer Schulfreundin in Paris erkundigt.
Als er durch Dudlington lief und versuchte, in Gedanken den wachsenden Haufen von Beweismaterial zu sortieren, der nirgendwohin führte und sich an allen Ecken und Enden widersprach, sah Rutledge Grace Letteridge aus dem Metzgerladen kommen.
Sie zögerte, als sie aufblickte und ihn zielstrebig auf sich zukommen sah, doch dann zog sie ihre Schultern zurück und blieb stehen, um auf ihn zu warten.
Als wäre ich die Guillotine, dachte er, und Hamish fügte hinzu: »Sie will nicht über die Vergangenheit reden.«
Als er sie erreicht hatte, sagte sie: »Ich würde gern hören, dass Constable Hensley an einer Wundinfektion gestorben ist.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Damit wäre Ihnen doch gar nicht geholfen, oder? Er ist nicht der eigentliche Quell Ihrer Wut.«
»Was soll das heißen?«
»Es ist kalt, und die Straße ist kein angemessener Ort, um über Privatangelegenheiten zu reden. Kommen Sie mit mir ins Polizeirevier oder soll ich Sie nach Hause begleiten? Mir ist das ziemlich egal, denn Tee gibt es weder da noch dort.«
Sie lachte kläglich. »Ich habe Tee im Haus. Kommen Sie mit, ich koche uns beiden eine Tasse.«
Sie liefen schweigend zu ihrem Haus. Sie hatte es abgelehnt, ihn ihre Einkäufe tragen zu lassen, und er drängte ihr seine Hilfe nicht auf.
Sie nahm ihm Mantel und Hut ab und wies ihm den Weg ins Wohnzimmer. Dort blieb er stehen und betrachtete die Aquarelle von Beatrice Mason. Sie waren gut, und technisch ließ sich nichts daran aussetzen. Aber er fragte sich, ob sie den entscheidenden Sprung gepackt hätte, den Geschmack der Londoner zu treffen, wie Catherine Tarrant und andere es mit ihren Ölgemälden geschafft hatten. Das, beschloss er, wäre von ihrer Zielstrebigkeit abhängig gewesen und auch davon, wie schnell ihre Begabung heranreifte. Besaß sie überhaupt das Talent, etwas Großartiges hervorzubringen?
»Sie hatte Mann und Kind«, rief ihm Hamish ins Gedächtnis zurück. »Die müssen ihr ein Klotz am Bein gewesen sein.«
Und wenn ihre Träume verblasst waren und sie erkannt hatte, dass eine Spur von Talent beklagenswerter war als überhaupt kein Talent? Das könnte ihren Entschluss erklären, ihre erste und später eine zweite Ehe einzugehen. Sicherheit, während sie sich nebenbei ein wenig als Künstlerin betätigte. Sicherheit, wenn sie Partys besuchte oder ihre Mappe herumzeigte und über ihre Arbeiten sprach. Wohl kaum der Ruhm, den sie sich erhofft hatte, aber begabte Ehefrauen wurden ganz anders empfangen als junge Künstlerinnen, die sich allein in schäbigen Pensionen herumtrieben und keinen Zutritt zur guten Gesellschaft hatten.
Er drehte sich um, als Grace Letteridge mit einem Tablett eintrat. »Damit werden Sie vorliebnehmen müssen. Kuchen oder belegte Brote kann ich Ihnen nicht anbieten, aber wenigstens ist der Tee warm.«
Rutledge nahm die Tasse entgegen, die sie ihm reichte, und rührte Zucker und Milch in seinen Tee.
»Ihre Bilder gefallen Ihnen, nicht wahr?«, sagte Grace und blickte zu den Aquarellen auf.
»Sie besitzt ein vorzügliches Gespür dafür, das Licht einzufangen«, sagte er.
»Ja, das ist mir auch als Erstes aufgefallen. Mit Wasserfarben lässt sich das nicht so leicht erreichen
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