Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
dachte er über die Dinge nach, die er an jenem Tag erfahren hatte. Es war ein wirrer Haufen von Eindrücken und Fakten, und er war nicht sicher, wohin ihn all das führte. Aber im Lauf der Jahre hatte er gelernt, sich auf seine Intuition zu verlassen, und er ließ selbst die kleinste Information nie unberücksichtigt. Manchmal spielte eine Kleinigkeit am Ende eine große Rolle, wenn er erst einmal die Geheimnisse ans Licht gebracht hatte, die ein stummes Dorf in sich verschloss.
Hamish sagte: »Du vergeudest deine Zeit damit, den Kirchturm zu besteigen. Das wird dir nicht sagen, wer diesen Constable gehasst hat.«
»Da wäre schon mal Grace Letteridge. Und möglicherweise Keating. Es könnte auch noch andere geben, die den Mund nicht so weit aufreißen. Sogar Ted Baylor, der den besten Ausblick auf Frith’s Wood hat und seine Chance erkannt haben könnte. Obwohl ich noch nicht weiß, was er gegen Hensley hat. Es sei denn, es hat etwas mit seinem toten Bruder und Emma Mason zu tun.«
Rutledge lauschte seinen Schritten, die von den Steinmauern der Whitby Lane widerhallten und sich dem Tempo seiner Gedanken anpassten.
Waren die kleinen Fenster von Dudlington dazu gedacht, die Kälte auszusperren, oder sollten sie verbergen, was sich in den Häusern abspielte?
Als er aufblickte, sah er, dass direkt neben Hensleys Haustür ein Wagen geparkt war. Er blieb stehen und versuchte einzuordnen, wem das Fahrzeug gehören könnte.
Aber er konnte sich nicht erinnern, diesen Wagen vor dem Oaks gesehen zu haben.
Er trat ein, doch im Büro war niemand. Er wollte in das kleine Wohnzimmer weitergehen, das dahinter lag, aber auf der Schwelle blieb er stocksteif stehen und traute seinen Augen nicht.
In dem Sessel an der Rückwand des Zimmers saß, halb in den Schatten verborgen, Meredith Channing.
20.
Mrs. Channing sprach als Erste.
»Nun ja, ich dachte mir, ich sollte herkommen.«
Es war, als hätte sie den Gedanken beantwortet, der ihm durch den Kopf ging.
Hamish, der aus dem Gleichgewicht geraten war, zischte drängend: »Schick sie weg.«
»Ich habe keine weiteren Hülsen gefunden«, sagte er unverblümt. »Ich glaube, es ist vorbei.«
»Nein. Es ist nicht vorbei.« Sie zog ihre Handschuhe aus.
»Woher könnten Sie das wissen?«
»Das spielt keine Rolle. Sie werden eingelullt, damit Sie in Ihrer Wachsamkeit nachlassen. Und vergessen, sich umzusehen, bevor Sie in eine Situation geraten, in der Sie sich nicht wehren können. In der Sie eine perfekte Zielscheibe bieten und hilflos sind.«
Rutledge sah sich in dem Kirchturm, an das hölzerne Achteck aus Brettern gepresst und außerstande, sich zu schützen. Er bekam eine Gänsehaut.
»Wie ich sehe, verstehen Sie mich.« Sie ließ ihre Handschuhe in ihre Handtasche fallen.
»Wieso sollte das für Sie eine Rolle spielen?«
Sie lächelte. »Typisch Mann! Sie sind ein Freund von Maryanne. Ich habe Ihre Schwester kennengelernt. Und einige Ihrer anderen Freunde. Wie könnte ich mich abwenden?«
»Sie haben einen weiten Weg zurückgelegt, um mir eine
Warnung zukommen zu lassen. Sie hätten mir stattdessen schreiben können.«
»Jetzt lassen Sie endlich Ihren Argwohn sausen und setzen Sie sich!« Sie hatte die Geduld mit ihm verloren. »Ich bin hier und will wissen, was ich für Sie tun kann.«
Er blieb noch einen Moment stehen und begriff dann, wie albern er wirken musste, wie ein trotziges Kind. Er trat ein und setzte sich auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des ovalen Tisches neben ihrem Ellbogen stand.
Sie sah sich um und sagte: »Diese Unterkunft ist spartanisch! Während ich auf Sie gewartet habe, habe ich mich in der Küche umgesehen. Ich hatte gehofft, ich fände Tee, um mich aufzuwärmen. Die Teedose ist leer, und in den Küchenschränken habe ich auch keinen Tee gefunden.«
»Das ist Constable Hensleys Haus«, sagte er. »Ich wohne hier, solange er im Krankenhaus ist.«
»Ich habe ein sehr hübsches Zimmer im Oaks. Es überrascht mich, dass Sie nicht dort abgestiegen sind.«
Er lächelte grimmig. »Dann sind Sie dem Besitzer noch nicht begegnet. Der will keinen Polizisten unter seinem Dach haben.«
»Haben Sie sich gefragt, woran das liegen könnte?«
»Es heißt, er sei ziemlich unleidlich.«
»Ich habe ihn als sehr höflich empfunden. Aber vielleicht wird er in Zukunft weniger höflich sein, wenn er entdeckt, dass ich Ihretwegen hergekommen bin.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Ich habe Ihnen das kleine Päckchen geschickt, falls Sie das
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