Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
hat, derart unfähig ist. Also musste er etwas zu verbergen haben. Und was wäre einleuchtender als seine Beteiligung an Emmas Ermordung?«
»Mord dürfte gesellschaftlich ebenso indiskutabel sein wie Selbstmord.«
»Tja, sogar der Umstand, dass sie von den Harknesses abstammt, ist Mary Ellison jetzt kein großer Trost mehr.« Die Worte klangen bitter und zornig.
»Man hat mir berichtet, Emma sei eines Tages irgendwo hinter der Kirche gesehen worden, als sie sich mit einem jungen Mann im Gras wälzte, wie derjenige es formuliert hat.«
Sie starrte ihn an. »Dann ist das also …« Und dann ließ sie ihren Satz abreißen.
»Was ist es also?«, fragte Rutledge, als sie nicht weitersprach.
Grace Letteridge schüttelte heftig den Kopf, doch ihr Mund wirkte verkniffen.
»Wer war der junge Mann?«, beharrte er.
Aber sie räumte bereits das Teegeschirr zusammen und trug es in die Küche, um das Thema damit abzuschließen.
Er folgte ihr durchs Haus.
»Ich kenne sogar seinen Namen«, sagte er, als sie das Tablett auf den Küchentisch stellte und ihm den Rücken zuwandte. »Es war Robert Baylor …«
Sie wirbelte derart schnell herum, dass er nicht darauf vorbereitet war und sich nicht einmal wehren konnte. Sie schlug ihm mit der rechten Hand so fest ins Gesicht, dass er kleine Lichter vor seinen Augen tanzen sah.
»Sprechen Sie in meiner Gegenwart niemals seinen Namen aus, haben Sie gehört? Wagen Sie es bloß nicht!«
Und ehe er es verhindern konnte, hatte sie die Küche verlassen und lief die Treppe hinauf, denn dorthin durfte er ihr nicht folgen.
Rutledge stand in der Küche. Sein Gesicht brannte, und er geriet immer mehr in Wut.
»Du hättest ihr nicht derart zusetzen dürfen. Nicht, wenn der junge Mann ihr Verlobter war.«
»Wenn Robert Baylor Emma Mason verführt hat, warum ist sie dann so fest davon überzeugt, dass Hensley das Mädchen ermordet hat?«
Aber andererseits gab es keinen Beweis dafür, dass Emma verführt worden war. Sie hätte sich ebenso gut gegen Baylor zur Wehr setzen können. Vor allem, wenn dieser stürmische Angriff nichts weiter als ein Versuchsballon war. Ein Test, um zu sehen, ob dieses hübsche Mädchen willig war oder nicht. Hensley dagegen hätte durchaus ebenfalls sein Glück probieren können, nachdem er von diesem anscheinend geglückten Verführungsversuch gehört hatte, und als Emma ihm damit gedroht hatte, ihrer Großmutter alles zu erzählen, hatte er sich das Mädchen und gleichzeitig das Problem vom Hals geschafft.
Aber warum hätte Hensley dann von sich aus zur Sprache gebracht, was Constable Markham gesehen zu haben glaubte?
Weil, so erkannte Rutledge jetzt, Robert Baylor in Frankreich gefallen war und es nicht bestreiten konnte. Und Hensley war es damit gelungen, den Verdacht ohne große Worte auf Grace Letteridge zu lenken.
Hensley war geschickt. In London war er gerade noch mal davongekommen und einem offiziellen Tadel entronnen. Er hätte es nicht riskieren können, sich hier einen zweiten Tadel einzuhandeln, und schon gar nicht damit, dass er gewaltsam Hand an ein junges Mädchen legte, dessen Großmutter mit der Familie Harkness verwandt war.
War dieses Motiv ausreichend, um den ersten Mord zu begehen? Den Mord an Emma?
Bowles hatte dem Constable eine zweite Chance gegeben und ihm gestattet, in der tiefsten Provinz von Northamptonshire Buße zu tun. Aber wenn es zu einem empörenden Skandal dieser
Art kam, hätte sogar Bowles nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Chief Superintendent Bowles legte mehr Wert auf seinen Titel und auf seinen Posten als auf einen seiner Untergebenen.
Rutledge hatte das Gefühl, allmählich zeichnete sich ein Zusammenhang zwischen all den bisher widersprüchlichen Einzelheiten ab.
Aber was war dann mit dem zweiten Mordversuch? Dem Mordanschlag auf Hensley?
Rutledge hatte sich Grace Letteridge zum Feind gemacht, indem er Robert Baylors Namen ins Spiel gebracht hatte. Und falls sie tatsächlich auf Hensley geschossen hatte, um zu rächen, was er Emma ihrer Meinung nach angetan hatte, dann war Rutledge, wie er jetzt erkannte, gut beraten, wenn er sich vor ihr in Acht nahm.
Aber wo fügte sich dann die Beziehung zwischen Robert Baylor und Grace Letteridge in das Bild ein?
21.
Am späten Nachmittag betrat Rutledge das Oaks. Dort bereitete ihm Keating einen unterkühlten Empfang.
»Wann bekomme ich meine Bedienung wieder?«
»Es wird nicht mehr lange dauern. Towson ist auf dem Weg der Besserung.«
»Was führt Sie zu
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